Morgen früh, wenn Gott will
unerwartete Schwangerschaft durchkreuzt. Anfangs hatte mich das gestört – ein Päckchen mehr auf meinen schuldbeladenen Schultern. Heute würde ich liebend gern mit Louis auch in einem Schuhkarton unter der Lewisham Bridge leben. Ich würde nie wieder irgendwohin wollen, wenn ich ihn nur endlich zurückhaben könnte. Ich starrte meinen Bruder an.
»Und du bist nicht auf die Idee gekommen, dass es uns vielleicht interessieren könnte, ob es dir gut geht?«
Er zog heftig an seiner Zigarette. Die Glut fraß sich rasch weiter vor.
»Ich habe dir doch eine Postkarte geschickt, oder etwa nicht?«
Ich schnaubte empört. »O ja. Eine in fünf Jahren. Vielen Dank. Das hat mich echt beruhigt. Sehr aufmerksam von dir.«
Ein misstrauischer Ausdruck schlich sich in seine Augen. Gleichzeitig zog er abwehrend die Schultern hoch. Zum ersten Mal an diesem Tag sah ich ihn genauer an. Er trug trotz der Hitze eine alte Lederjacke und schwitzte darin ein wenig. Winzige Schweißtropfen sammelten sich am Haaransatz und perlten über seine blasse, feuchtkalte Stirn. Jetzt erst bemerkte ich, wie kränklich er aussah. Panik wallte in mir auf.
»Robbie, warum hast du das nur getan? Wir waren immer so … so …« Doch ich brachte den Satz nicht zu Ende. Er war auch nicht besser als mein Vater, nicht zuverlässiger. In der Pause, die darauf folgte, konnte ich spüren, wie wir auseinandertrieben, als wären die Blutsbande zwischen uns schon vor langer Zeit gelöst worden. Ich versuchte ein ums andere Mal, die Verbindung wiederherzustellen, musste aber dann doch einsehen, dass es mir nicht gelungen war. Mein Leben hatte diese Wendung genommen, seines ging, soweit ich sehen konnte, den Bach hinunter. Den Bach hinunter in das »verdammt geile Bangkok«.
»Jess«, sagte er vorsichtig, schien es sich dann jedoch wieder anders zu überlegen und stürzte stattdessen lieber den Whisky hinunter.
»Was denn?«, ermutigte ich ihn. Er sah mich nicht an. »Was wolltest du sagen?«, hakte ich nach, mittlerweile ein wenig ungeduldig geworden.
»Nichts.« Das Leder knirschte, als er nach einer seiner Selbstgedrehten fischte, es am Ende aber doch aufgeben musste. Dann: »Bist du glücklich?«
»O ja, ich bin außer mir vor Glück. Mir ging es noch nie besser. Was glaubst du eigentlich, du Dummkopf?«
»Nicht speziell jetzt. Nicht seitdem … du weißt schon, seitdem Luke weg …«
»Luke?« Ich sprang vom Barhocker. Mein Zorn übermannte mich fast. »Wen willst du eigentlich verarschen? Du sagst, du bist gekommen, weil du dir Sorgen gemacht hast – und dann weißt du nicht mal, wie mein Sohn heißt. Du kannst dich nicht mal an seinen Namen erinnern.«
Zu spät erkannte er seinen Fehler. Er legte mir die Hand auf den Arm, als wolle er mich am Gehen hindern. »Louis«, korrigierte er sich schnell. »Louis habe ich natürlich gemeint. Tut mir leid. Ich wollte nur wissen, ob du im Normalfall glücklich bist mit Louis. Und mit deinem Alten natürlich.«
Ich kippte meinen Drink hinunter, dann trat ich ganz nahe an meinen Bruder heran und nahm sein feuchtkaltes Gesicht zwischen beide Hände. Ich sah ihm direkt in die glasigen Augen, die meinem Blick sofort auswichen.
»Rob, du versaust gerade dein Leben, oder? Du bist vollkommen am Arsch. Gott!« Verzweifelt ließ ich meine Hände sinken: »Ich habe bis jetzt nicht einmal gemerkt, wie extrem am Arsch du bist.« Ich kaute an meinem Daumennagel und dachte nach. »Hör mal, Robbie. Ich werde dir jederzeit gerne helfen. Ich tue alles, was ich kann – aber nur, wenn du mir versprichst, dass du auch zusiehst, wie du wieder auf die Füße kommst. Robbie?«
Aber er sah mich nicht mehr an. Stattdessen drehte er sich zum Barmann um und machte ihm ein Zeichen, er möge ihm doch noch einmal dasselbe hinstellen. Also wandte ich mich ab. Ich musste einfach. Ich kehrte meinem Bruder den Rücken, dem Kind, das ich so lange beschützt hatte, das nicht wollte, dass ich ihm half, aber immer noch etwas von mir haben wollte, obwohl ich selbst völlig am Ende war. Als ich ins Sonnenlicht hinaustrat, musste ich in der Helligkeit blinzeln. Ich suchte nach der Sonnenbrille in meiner Tasche, während ich mich pausenlos fragte, was ich wohl besaß, das Robbie brauchte. Ich hätte es zu gerne gewusst.
Ich war schon halb den Hügel hinauf, bevor ich es mir anders überlegte. Ich sah eine Frau mit einem Buggy wie meinem direkt vor mir und ging ihr nach. Als sie die Heidewiesen erreichte, nahm sie ihr Kleines aus dem Wagen,
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