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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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Er ging nicht weiter darauf ein, und ich hatte nicht das Herz, weiter in ihn zu dringen. Ich wartete einen Augenblick.
    »Möchten Sie von ihnen erzählen?«
    »Ein andermal vielleicht, Kleines.« Er warf dem Hund ein Stück Brot zu, das er mit seiner großen, feuchten Nase beschnüffelte, bevor er es verächtlich liegen ließ. »Ich wollte nur sagen, dass ich sehr wohl verstehe, wie es sich anfühlt, ein Kind zu lieben. Wirklich.«
    Unglücklich senkte ich den Blick. Auf dem Boden kämpfte eine Ameise gerade mit einem Brotkrümel, der etwa doppelt so groß war wie ihr zierlicher Körper. Sie bekam es gerade so hin.
    »Sie haben mich doch wegen meines Vaters gefragt«, sagte ich leichthin, während ich den Blick immer noch auf die Ameise gerichtet hielt.
    »Ja.« Silver bedrängte mich nicht.
    »Er war wirklich ein sehr netter Mann. Er konnte nur einfach nicht sauber bleiben. Er war … er hat eine Zeit lang gesessen.«
    »Das dachte ich mir schon.«
    »Schließlich hat er meiner Mutter das Herz gebrochen.«
    »Und Ihres?«
    Ich sah überrascht auf.
    »Hört sich an, als hätten Sie beide sich sehr gut verstanden.«
    Ich schluckte schwer. »Ja, das war wohl so. Ich dachte immer, nein, eigentlich wusste ich, dass ich sein Liebling war. Zwischen uns gab es eine Art Band. Warum weiß ich auch nicht. Es war einfach nur so. Und … meine Mutter hatte etwas dagegen, wissen Sie.«
    »Das ist allerdings eine Schande.«
    »Beim letzten Mal hat man ihn für ziemlich lange Zeit verknackt. Schließlich wurde er krank. Am Ende ließen sie ihn sogar frei.« Ich spürte, wie mein Mund trocken wurde. »Damit er … nun, damit er in Ruhe sterben konnte. Im Krankenhaus. Als er dann letztendlich starb, war meine Mutter nicht bei ihm. Sie war … sie hatte in die Schule gemusst, weil ich Ärger an der Backe hatte.« Dabei war ich nur wieder für meinen hitzköpfigen Bruder in die Bresche gesprungen, der einen anderen Jungen verprügelt hatte, weil der ihn mit seinem »Knastpapi« aufzog. Ich trank einen Schluck. »Und das hat sie mir nie richtig verziehen, glaube ich. Dass sie meinetwegen nicht zu meinem Vater konnte.«
    Unter lautem Gejohle schlug der sommersprossige Junge den Ball aus dem Grün. Silver applaudierte begeistert.
    »Guter Junge.« Dann wandte er sich wieder mir zu. »Fahren Sie fort.«
    Aber ich konnte nicht mehr. Ich weiß noch, wie ich in der Nacht, als mein Vater gestorben war, zu meiner Mutter ins Bett kroch. Sie ließ mich neben sich liegen. Sie hielt sogar meine Hand, während sie ins fahle Licht des Morgens hinein rauchte und hustete. Ich hatte solche Angst, dass ihr nun auch etwas geschehen könne, dass ich mich an sie klammerte, bis ich einschlief. An jenem Tag kam ich zu spät zur Schule. In der folgenden Nacht kletterte ich wieder zu ihr ins Bett, aber dieses Mal wandte sie mir den Rücken zu und sagte mir, ich solle verschwinden. Ich schlurfte in unser Zimmer zurück und kletterte in mein Bett, das über dem von Robbie lag. Dies war das letzte Mal, dass ich versucht hatte, mich zu meiner Mutter zu legen.
    Die Ameise war nun verschwunden.
    »Wissen Sie, was ich mich frage?«, sagte ich und schob ein Silberzwiebelchen um den Tellerrand. »Was bringt jemanden dazu, ein Kind zu entführen?«
    Er sah mich an.
    »Mein Kind«, fügte ich wütend hinzu. »Die müssen doch komplett durchgeknallt sein, oder etwa nicht?«
    »Nicht unbedingt durchgeknallt. Nein, das nicht. Eher verzweifelt.«
    Still überdachten wir die Möglichkeiten. Still hing ich meinen wachsenden Schuldgefühlen nach. Irgendetwas hatte ich getan, dass mir so etwas passieren musste. Der Gedanke wurde Tag für Tag stärker.
    Silver entschuldigte sich und ging in die Gaststube, um zu zahlen. Ich dachte über die Tage nach Louis’ Geburt nach, und mein Gesicht verzog sich. Ich schüttete meinen Drink hinunter, doch es gelang mir nicht, die Erinnerung auszublenden, diese verdammten Erinnerungen, die mir keine Ruhe ließen. Wie ich das schreiende Baby anbrüllte, weil es nicht trinken wollte. Meine Tränen: der endlose Strom angstvoller Tränen, das Gefühl, niemanden zu haben, der mir helfen konnte, der mir sagte, was zu tun war. Hin und wieder kam Leigh vorbei und warf mir ein paar Brosamen praktischer Ratschläge zu, auf die ich mich stürzte wie eine Verhungernde. Aber bei ihr war es zu lange her, dass die Kinder Babys gewesen waren. Und mit Jungs hatte sie sowieso nichts am Hut. Viel zu viel Ärger. Sie zog ihre Mädchen vor – und ihre

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