Morgen früh, wenn Gott will
wusste, dass dieser winzige Mensch mit seinem faltigen Schildkrötengesicht, mit seiner runzlig-weichen Haut, seinen uralten, weisen Augen, die schon alles gesehen zu haben schienen, mit diesem warmen Körperchen wie ein junger Hund, der sich noch zusammenrollt, ich wusste, dass diesem Menschen, der sich da an meine Brust schmiegte, als hinge sein Leben davon ab, Böses geschehen konnte, und dass ich jetzt, da ich ihn hatte, ohne ihn nicht mehr würde leben können. Ich würde einfach nicht damit fertig werden. Ich würde einfach zerbröseln und sterben. Dieser Erkenntnis folgten die Ängste auf dem Fuß, die schlaflosen Nächte, der Kampf ums Stillen, der Tanz der Hormone, der alles durcheinanderwirbelte. Doch im Zentrum all dessen stand die Erkenntnis, dass ich mein Baby zu sehr liebte, um noch klar denken zu können. Und eine gute Mutter zu sein.
Diese Panik ließ erst viel später nach, als ich lernte, dieser Liebe zu vertrauen, nicht gegen sie anzukämpfen. Aber hatte ich nicht die ganze Zeit über recht gehabt? Diese Liebe war einfach zu vollkommen, um unangetastet zu bleiben.
Am Ende beschloss ich, das für mich zu behalten. Die Psychologin musste ja denken, ich sei verrückt, verrückter als es ohnehin schon schien mit meinen postnatalen Depressionen. Sobald ich konnte, entschuldigte ich mich und ging. Ich schätzte, dass sie genug Material hatte, um ihren Papierkram bezüglich meiner Person erledigen zu können. Ich versprach, sie anzurufen, wenn ich das Gefühl hätte, erneut die Kontrolle zu verlieren. Als sie mir ihre Karte gab, hielt sie meine Hand fest. Ich könne sie jederzeit anrufen, meinte sie. Ich konnte der Versuchung, vor ihren Augen zusammenzubrechen und sie um Hilfe anzuflehen, gerade noch widerstehen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit alldem fertig werden sollte. Stattdessen nahm ich ihre Hand und drückte sie ebenfalls sehr höflich.
Jetzt wollte ich Mickey wirklich sehen. Seine Verwundbarkeit mochte für mich schwer zu ertragen sein, aber da waren doch einige Dinge, die ich wissen wollte. Ich brauchte Antworten. Seit letzter Nacht ging mir eine Frage nicht mehr aus dem Kopf.
Bald saß ich an seinem Bettrand und hielt seine Hand. Er atmete flach, daher gab man ihm erneut Sauerstoff. Schwester Kwame schwebte durch den Raum, und ich spürte trotz ihres beruhigenden Lächelns eine neue Anspannung in ihr. Man wartete gerade auf den Arzt mit den kleinen Ohren.
»Ist dir noch etwas eingefallen?« Ich versuchte, so gleichgültig wie möglich zu klingen, doch Mickey schien die Verzweiflung in meinen Augen zu lesen. Er schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht.
»Oh, Mickey.« Ich drückte seine Hand ein wenig fester. »Hast du immer noch solche Schmerzen?«
Er schnitt eine Grimasse. »Ich fürchte ja«, murmelte er.
»Kann ich etwas für dich tun?« Ich versuchte, sein Kissen aufzuschütteln, doch als klar wurde, dass ihm das nicht gerade guttat, ließ ich es bleiben. Er versuchte, sich wieder bequem hinzulegen, und ich wartete, bis es so weit war. Dann aber konnte ich nicht mehr an mich halten.
»Mickey, wieso hattest du denn diesen Pass bei dir?«, platzte ich heraus. Er sah verwirrt drein. Wie vergessen glitt meine Hand aus der seinen.
»Wann?«
»Als man dich gefunden hat. Nach Louis, nachdem du angegriffen wurdest.«
»Keine Ahnung. Wenn ich mich nur erinnern könnte.« Pause. Er runzelte die Stirn. »Meinen Pass, sagst du? Bist du sicher?«
Ich nickte, wagte aber nicht zu sprechen. Dann malte sich Erleichterung auf seinem Gesicht.
»Aber ich trage meinen Pass doch sicher stets bei mir?«
»Wirklich? Warum solltest du?«
»Wegen der Arbeit. Ich weiß nicht. Ich hatte wohl Vorbereitungen für eine Reise zu treffen. Da ist doch nichts Merkwürdiges dran, Jessica.« Zum ersten Mal seit er aus dem Koma erwacht war, hörte er sich an wie der alte Mickey. Ungeduldig. Immer gleich auf der Palme. Mein Herz tat einen kleinen Hopser. Ich war ja so begierig auf Schelte. Genau diesen Zug hasste und liebte ich an meinem Ehemann. Seine Sicherheit. Seine Weigerung, mit Dummköpfen klarzukommen.
»Wenn du dir Sorgen machst, frag doch Pauline.«
»Das tue ich. Aber ich glaube, sie ist immer noch weg. Niemand hat sie bisher erreichen können.«
Er spürte mein Unbehagen und griff nach meiner Hand. Der Mann, der andere Menschen kaum je berührte. Ich wusste, ich sollte diesen neuen Mickey genießen, aber ich fühlte mich wie auf einer Seilbrücke: abrutschen, Fuß fassen, abrutschen, Fuß
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