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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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…«
    »Wie?«
    »Ich weiß nicht. Ich versuche gerade, es möglichst höflich auszudrücken.«
    »Dann lassen Sie doch das mit der Höflichkeit. Warum sollten Sie höflich sein?«
    »Vielleicht weil sie meine Mutter ist?«
    »Aus Ihren Worten spricht eine große Verletztheit, Jessica. Also, was wollten Sie sagen: Sie wird ungefähr so nützlich sein wie …«
    »Ein Schlag ins Gesicht.«
    Ihr Gesicht leuchtete auf. Ich verfluchte mich.
    »Ein merkwürdiger Vergleich, nicht?«
    »Nein, eigentlich nicht«, sagte ich ein wenig sauer. Sie hatte mich schließlich dazu gebracht, das zu sagen. Ich wusste ja, dass es gefährlich war, wenn jemand einen Blick hinter die Wand meiner Geheimnisse tat. Ich hasste es, wenn jemand an mir herumanalysierte. Männer mochten mich, weil ich nie tiefschürfende Gespräche führen wollte.
    »Sie ist einfach nur ein bisschen … daneben, wenn Sie so wollen«, sagte ich. »Meine Mutter.«
    Die Therapeutin sah mich so lange erwartungsvoll an, bis ich mich verpflichtet fühlte, ein bisschen mehr zu sagen. Ich murmelte: »Nun ja, sie hatte ein hartes Leben. Aber es ist nicht ihre Schuld. Ich nehme mal an, das hat sie irgendwie … verletzt. Sie war noch nie besonders gut darin, ihre Liebe zu zeigen, wissen Sie.«
    »Ah ja. Ja, jetzt verstehe ich.« Endlich. Ich lehnte mich zurück. Sie hatte, was sie wollte. Die Therapeutin ließ durch ihre makellosen Zähne ein verständnisvolles Schnauben hören. Ich fragte mich, ob sie wohl beim selben Zahnarzt war wie Silver. Irgendwie war es unheimlich, dass mir dauernd sein Name einfiel. Ich widerstand dem Impuls, sie zu bitten, mir diese Muttersache doch genauer zu erklären, denn tatsächlich hatte ich das, was zwischen uns war, nie richtig verstanden. Wann immer ich meine Mutter gebraucht hätte, war sie nicht da. Sie war nie da gewesen. So einfach war das.
    Die Therapeutin wollte über Mickey reden. Ich nicht.
    »Das verschärft Ihre Verlassenheit noch, nicht wahr, Jessica?«, meinte sie ganz freundlich. Ich hätte vor Verzweiflung fast laut herausgelacht. »Sie haben Angst um ihn.«
    Ja, ich hatte Angst, aber weniger um ihn als vor ihm. Ich hatte Angst, dass er sich nach den erlittenen Verletzungen fremd fühlen würde. Ich hatte Angst, weil seine Verwundbarkeit mir so merkwürdig vorkam. So – unattraktiv. Er schien mir plötzlich wie eine Schnecke ohne Haus. Weich und vollständig wehrlos. Das machte mir Angst, schlimmer noch, ich schämte mich dieser neuen Gefühle.
    Da … ich hatte es endlich zugegeben. Mein Kopf ging mit einem Ruck nach oben. Ich sah sie an. Hatte ich etwa laut gesprochen? Sie saß geduldig da und beobachtete mich. Also hatte ich vermutlich nichts gesagt. Wie auch immer: Wenn wir anfingen, über Mickey zu reden, würden wir noch Stunden hier sitzen. Die Frage, wieso ich ihn geheiratet hatte. Warum er mich genommen hatte, wo jedes Mädchen im Büro nach ihm lechzte. War ich überhaupt gut genug für ihn? Am meisten Angst hatte ich, dass die Flut kein Ende mehr nehmen würde, sobald der Damm einmal gebrochen war.
    »Sind Sie wütend auf ihn?«
    »Das war ich.«
    »Ich denke, das ist eine vollkommen natürliche Reaktion. Dass Sie ihn verantwortlich gemacht haben.«
    »Aber damit bin ich durch.« Sie starrte mich an. »Wirklich.«
    Ich überlegte, ob ich ihr von meiner Vorahnung berichten sollte, eine Ahnung, die mich befiel, gleich nachdem Louis – vier Wochen zu früh – geboren war. Ich saß in meinem Privatkrankenzimmer, das Mickey trotz meiner Proteste belegt hatte, und war von all den Medikamenten ziemlich hinüber. Ich wäre lieber mit den anderen Müttern der Station zusammen gewesen, hätte vielleicht auch ein paar neue Freundinnen gefunden. Ich hielt mein Baby im Arm, das man aus dem Inkubator genommen hatte, und spürte eine unerwartete, gigantische Welle der Liebe, die über mich hinwegrollte. Es war einfach atemberaubend. Es war zum Auf-der-Stelle-Umfallen. Und es machte mir Angst, wie dieses unglaublich tiefe Gefühl mich erfasste und mich nahezu atemlos in seinem Kielwasser zurückließ. Was dem am nächsten kam, war wohl das, was ich bis zu diesem Zeitpunkt für meinen Vater oder meinen kleinen Bruder empfunden hatte – und sie hatten mich beide im Stich gelassen. Ich war allein zurückgeblieben. In diesem Augenblick, als ich da in meinem Bett saß und meine neue Liebe umfing, wusste ich, dass ich diesem Gefühl, dieser reinen Emotion, die stärker war als alles andere, nie würde vertrauen können. Ich

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