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Morgen früh, wenn Gott will

Morgen früh, wenn Gott will

Titel: Morgen früh, wenn Gott will Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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gelitten. Ich erhob mich vom Sofa und fiel fast hin, weil ich über den Vorleger stolperte. Doch das Kaffeetischchen rechter Hand kam mir zu Hilfe. Aus irgendeinem Grund fand ich das lustig, und so fing ich zu lachen an. Ich hörte erst auf, als ich merkte, dass Shirl nicht einstimmte.
    Ich wusste, dass ich zu Mickey hätte fahren sollen, nachdem ich mich von Pauline verabschiedet hatte, aber ich brachte es einfach nicht fertig. Ich wollte ihn nicht sagen hören, dass er Agnes immer noch liebte. Ich hätte es nicht ertragen können. Also rief ich vom Auto aus auf der Station an. Die diensthabende Krankenschwester meinte, er schlafe ohnehin. Ich war erleichtert. Als ich nach Hause kam, machte ich eine Flasche Wein auf. Damit war sichergestellt, dass ich unter Garantie viel zu betrunken sein würde, um ihn zu besuchen. Ich rief Mickeys Webdesigner an und bat ihn um Rat, was meine »Suche nach Louis«-Webseite anging. Die Vorstellung, dass Fremde meinen Sohn sehen könnten, ohne zu wissen, dass er ein geraubtes Kind war, brannte mir auf den Nägeln. Dies vor allem wollte ich allen klarmachen. Möglichst jeder sollte nach ihm suchen. Die Internet-Geschichten über vermisste Kinder versetzten mich immer noch in Angst und Schrecken, aber ich konnte nicht anders, ich rief sie immer wieder auf – wie unter Zwang.
    Dann kam auch Shirl nach Hause und half mir mit der Flasche. Deb versuchte vergeblich, die Missbilligung aus ihrem Blick zu verbannen. Sie machte uns Kaffee, doch der wurde kalt und wir immer betrunkener. Ich ließ den Computer Computer sein, aber vorher las ich noch eine Horrorstory über einen Zweijährigen, der schon zehn Jahre vermisst worden war. Die Mutter suchte immer noch nach ihm und veröffentlichte verzweifelte Aufrufe auf ihrer Website. Du wirst bis in alle Ewigkeit nach ihm suchen, nicht wahr? Dich dein Leben lang fragen, ob der Fußball spielende Junge auf dem Spielplatz, der Teenager auf dem Fahrrad oder der Junge im Supermarkt, an dem du gerade vorbeigekommen bist, nicht vielleicht dein Sohn war.
    Schließlich kam Maxine und stapfte in ihr Zimmer hinauf, wobei sie die Tür hinter sich zuschlug. Ich nahm an, ihr Freund war vielleicht doch kein Moldawier. Irgendwie hoffte ich, dass Silver sie hergebracht hatte, doch der davonfahrende Wagen sah nicht aus wie seiner, nicht einmal für ein alkoholtrübes Auge.
    »Pampige Kuh«, sagte Shirl. »Ich weiß gar nicht, warum du sie hierbehältst.« Sie brütete gerade über ihren Rechnungen.
    »Oh, sie ist schon in Ordnung.« Ich war heute milder Stimmung. »Sie hat ein gutes Herz, ehrlich. Irgendwo jedenfalls. Sie liebt Louis. Und Mickey mag sie auch.«
    »Ach, tut er das?« Shirl zog die Brauen nach oben. »Ein Grund mehr, sie vor die Tür zu setzen, würde ich meinen.«
    »Nicht so, du dumme Nudel. Mickey glaubt einfach, ich brauche sie.« Ich tat so, als fände ich die Vorstellung komisch. Shirl sollte nicht merken, wie nah sie der Wahrheit gekommen war. Wie häufig ich mich mit der geschmeidigen Maxine verglichen hatte, als ich darum kämpfte, mein altes Selbst zurückzubekommen. Wie sehr ich gefürchtet hatte, mein Mann könne sich nach der Freiheit sehnen, die sie symbolisierte.
    Shirl schniefte. »Mickey macht sich um Dinge Gedanken, die ihn gar nichts angehen, würde ich mal sagen.«
    Ein Schweigen kam auf, das ich zunehmend als unangenehm empfand. Also krabbelte ich zur Stereoanlage hinüber und legte Musik auf. Ich drehte leise, weil ich Louis nicht wecken wollte. Bis mir einfiel, dass er ja nicht da war und sich mir der Magen zusammenkrampfte. Ich goss mehr Wein in mein Glas, wobei ich allerdings gut die Hälfte verschüttete und mich schuldbewusst umsah. Erst da wurde mir klar, dass ich zu Hause war. Grundsätzlich zumindest. Und ich rieb die Tropfen mit dem nackten Fuß in den Teppich.
    »Sollen wir losgehen und nach Louis suchen?«, schlug ich vor und versuchte, nicht zu schwanken.
    »In diesem Zustand? Da bleibst du besser hier.« Shirl schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Meine Güte, Jess! Dein Musikgeschmack ist auch nicht besser geworden«, meinte sie, als Nirvana aus Mickeys psychedelischen New-Age-Lautsprechern tönte. Ich drehte so richtig auf. »Wir können schließlich nicht alle Bob-Marley-Fans sein, Shirl, oder?«
    »Das war eben eine krasse Übertreibung und dazu noch eine rassistische Bemerkung, gute Frau.«
    »Aber du stehst doch auf alles von Bob«, sagte ich indigniert.
    »Das mag ja sein, aber es ist immer noch eine

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