Morgen früh, wenn Gott will
noch nie »Liebling« genannt.
»Ich mag sie nicht besonders«, flüsterte er. »Das ist die reine Wahrheit.« Dann küsste er mich sanft auf den Mund, und ich spürte diese Veränderung in mir drin, dieses Mickey-Gefühl, dem ich einfach nicht entgehen konnte. Also erwiderte ich seinen Kuss. Am liebsten wäre ich ins Bett geklettert und hätte mich in seine Arme verkrochen. Ich sehnte mich so nach ein bisschen Nähe, egal zu wem, jetzt wo die innige Verbundenheit, die ich mit Louis hatte, nicht mehr möglich war. Allein die Wärme, die er ausstrahlte, wenn ich ihn in den Armen hielt. Nichts davon war mehr da. Ich drängte mich an ihn, und er stöhnte auf. Mehr vor Schmerz, denn vor Lust, nahm ich an.
»Ich liebe dich, Mickey«, sagte ich und schielte auf ihn hinab. Wenn ich nur mit einem Auge sah, war das Bild schärfer. »Es tut mir leid, wenn ich merkwürdig war.«
»Du bist betrunken.«
»Und wenn schon? Darf ich das denn nie sagen? Macht es dir so viel Angst? Du bist der Vater meines Kindes.« Verletzt richtete ich mich wieder auf, aber er nahm meine Hand zwischen seine kühlen, schmalen Finger, zog mich zu sich aufs Bett und küsste mich wieder. Mein Inneres zerfloss. Seine Augen glitzerten immer noch wie Kristallkugeln in der Disco, und ich war nicht ganz sicher, ob er wirklich schon ganz bei Bewusstsein war, aber das war mir auch egal. Ich wollte nur den Schmerz betäuben, den ich empfand.
»Glaubst du, jemand hat es schon mal auf der Intensivstation getrieben?«, flüsterte ich, und er lächelte halb.
»Ich weiß nicht, Jessica. Was glaubst du denn?«
Ich kletterte aufs Bett und schob meinen Rock hoch, während ich mich auf ihn setzte. Lust und Alkohol machten mich anschmiegsam, aber ich bewegte mich nicht zu schnell, damit die Maschinen nicht plötzlich zu piepsen anfingen. Sanft schaukelte ich auf ihm hin und her. Eigentlich konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen, aber so viel wusste ich, dass es das war, was mich seit jeher an Mickey band, das, was weder Shirl noch die anderen je zu Gesicht bekamen, dieser plötzliche Hunger nach seinem Körper. Obwohl ich, seit Louis geboren war, immer Angst hatte, ihm zu nahe zu kommen, weil all die Veränderungen mich erschreckten.
Und dann sah ich mich plötzlich aus der Perspektive einer Fledermaus an der Decke, wie ich da mit meinem verletzten Mann auf dem Bett lag. Was zum Teufel tat ich da eigentlich? Wie eine Säuferin gab ich mich dem alkoholisierten Lusttaumel hin, während irgendwo da draußen in der schwülen Sommernacht jemand mein Baby hatte, es im Arm hielt, während ich bereit war, es zu vergessen. Gut, ich sehnte mich nach jedem Krümel Nähe, den Mickey mir geben konnte, aber ich musste mich einfach auf meinen Sohn konzentrieren – nur auf meinen Sohn. Und so hielt ich stocksteif inne, entsetzt über mich selbst, über die Unwürdigkeit meines Tuns, und schämte mich zu Tode. Ungeschickt kletterte ich herunter und brauchte dazu weit weniger Zeit als zum Hinaufklettern. Ich strich meine Kleider glatt und das Haar zurück. Hoffentlich hatte mich niemand gesehen! Ich betete geradezu, dass Louis meinen Verrat nicht gespürt hatte, wo immer er auch sein mochte. Ich hatte mich einen Moment lang vergessen.
Mickey flüsterte mir etwas zu, aber ich konnte ihn nicht verstehen, weil das Summen der Maschinen in dem abgedunkelten Raum so laut klang. Also beugte ich mich zu ihm hinab und bat ihn, es doch zu wiederholen.
»Ich sagte«, meinte er keuchend, »dass ich dich nie verletzen wollte, Liebling.« Sein Gesicht wirkte bleich unter all den Abschürfungen und blauen Flecken. Dann strich Mickey mir das Haar zurück und küsste mich noch einmal auf den Mund, nur dass ich dieses Mal zurückfuhr, weil der Kuss sich falsch anfühlte. Weil ich aber spürte, dass ihn dies einige Anstrengung kostete, ergriff ich seine Hand. Ich wünschte mir wirklich, dass es ihm bald besser ginge, dass er sich erheben und mit mir das Krankenhaus verlassen könne, dass er mir helfen würde, seinen Sohn zu suchen. Und dass wir unser Kind finden würden, das uns jetzt mehr denn je brauchte. Dann fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen, dass dieser Kuss nach Abschied schmeckte. Auf seinem unendlich kalten Körper lag der eisige Glanz von Schweiß. Hatte ich ihm mit meinen erotischen Anwandlungen etwa einen Rückfall beschert?
Fast hätte ich ihn noch lachend danach gefragt, aber er konnte kaum noch atmen, und dann begann eine der Maschinen zu piepen, und Mickey
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