Morgen ist ein neuer Tag
den Brief lese, ängstigte sie sich. Was sollen dann die anderen Reisenden denken? Sie faßte deshalb einen Entschluß, erhob sich und verließ das Abteil, um draußen auf dem Gang des Waggons den Brief zu lesen. Mit bebenden Fingern riß sie den Umschlag auf und entfaltete den Bogen.
Zunächst verschwammen die Buchstaben vor ihren Augen, über denen die Tränen wie ein Schleier lagen. Doch dann formten sie sich, wurden zu Worten … zu Sätzen …
»Meine liebe Lina … Nun habe ich Minden wieder verlassen, um eine kleine Chance, die mir das Leben noch gibt, auszunutzen. Darum möchte ich dich heute bitten: Suche mich nicht, forsche nicht nach, wo ich bin, sondern warte. Vielleicht in drei Monaten wird alles gut sein, und wir können wieder zusammenkommen. Was sind drei Monate, wenn zwölf solche Jahre hinter uns liegen? Und diesmal wissen wir, daß wir uns wiedersehen werden, daß wir wieder einander gehören werden und daß unser Leben wieder so wird, wie es einmal war – glücklich und zufrieden. Warte auf mich, Lina. Ich liebe dich noch immer. Dein Fritz.«
Sie lehnte sich gegen den Rahmen eines offenen Fensters und ließ den Brief sinken. Der Fahrtwind verfing sich in ihren Haaren und wirbelte ihr die Locken ins Gesicht.
Warten, dachte sie. Noch ein Vierteljahr. Und er schreibt nicht, wo er ist; er sagt kein Wort davon, daß ich zu ihm kommen soll. Bitte suche mich nicht, ich liebe dich noch immer, schreibt er.
Ein Vierteljahr. Sie rechnete aus, wieviel sie in diesen drei Monaten von ihrem Gehalt bei Hans Herten ersparen konnte, wenn sie sich nichts gönnte, von früh bis spät arbeitete und jeden Pfennig auf die Seite legte. Für sie durfte es kein Kino geben, kein Café, kein neues Kleid, nur das Allernötigste zum Leben, nur ein kleines Zimmer unter dem Dach, das wenig kostete.
Sie steckte den Brief wieder in die Tasche, kämmte sich mit einem der Haarkämme die Locken, ordnete sie und steckte sie fest. Dann wischte sie sich mit dem Taschentuch über das Gesicht, wartete noch eine Weile und trat dann wieder ins Abteil.
Und dann saß sie erneut am Fenster, blickte hinaus auf die vorbeifliegende Landschaft, die blühend unter der strahlenden Frühlingssonne lag.
Ratternd rollte der Zug dem Ruhrgebiet entgegen. Der Himmel wurde rußiger, trüber, die ersten hohen Schornsteine der Zechen und Hüttenwerke stachen aus der Landschaft empor. Weite Industrieanlagen dehnten sich neben der Bahnstrecke, große Werkhallen mit Glasdächern, hohe Bürobauten, mächtige Kessel und eine verwirrende Fülle von Röhren und Leitungen, Klärbecken und Kohlenhalden reihten sich aneinander.
Die Städte gingen ineinander über, Bahnhof reihte sich an Bahnhof, kaum daß man merkte, schon wieder in einer anderen Stadt zu sein. Wie eine einzige Riesenstadt war dieses ganze Ruhrgebiet, die größte Stadt der Welt, durchdrungen von Arbeit und Kohle, Eisen und Stahl. Und Millionen Menschen kannten zwischen den Fördertürmen und Schlackenhalden, den Koksöfen und Riesenschmieden nichts anderes als Stahl und Kohle, die der Puls ihres Lebens waren, ohne den es augenblicklich zum Stillstand gekommen wäre.
Erfreut und mit Unbehagen zugleich sah Lina Dortmund auftauchen. Vorbei an den hohen Sudhäusern der Brauereien, die den Namen Dortmund hinaus in die ganze Welt trugen, rollte der Zug der Halle des Hauptbahnhofs entgegen. Inmitten des Sonntagstrubels stand sie verloren auf dem Bahnsteig, neben sich ihre beiden Koffer, und blickte um sich. Münsterstraße, dachte sie. Dort soll ein Zimmer auf mich warten. Bei einer Schwester von Frau Schmitz. Nicht weit vom Bahnhof.
Wenn man aus der Vorhalle trat, links herunter an der Hauptpost vorbei, durch die Unterführung und dann geradeaus, quer über den Steinplatz, Richtung Kirche.
Sie nahm ihre Koffer auf und schloß sich dem Strom der Reisenden an, der sich die Treppen hinunterwälzte, dem Hauptausgang zu.
Unsicher suchte sie dann den ihr beschriebenen Weg, bewunderte in den Schaufenstern die Angebote der Modehäuser, beobachtete an den Straßenecken etwas verwirrt den ungewohnten Großstadtverkehr und dachte dabei, was ihr Max Schmitz, der Dortmund von früher her kannte, gesagt hatte:
»Zuerst wirst du den Rhythmus der großen Stadt bewundern, er wird dir gefallen – doch nicht lange, dann frißt er dich und du wirst ein Sklave von ihm.«
Sie ging weiter, überquerte den Steinplatz und schleppte ihre Koffer die Münsterstraße hinunter. Nächsten Sonntag, dachte sie dabei, sehe
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