Morgen ist ein neuer Tag
ich mir die großen Straßen an, die Kaufhäuser, die wundervollen Geschäfte – das berühmte Schaufenster Dortmunds, auf das es so stolz ist wie Düsseldorf auf seine Königsallee – den Westen- und Ostenhellweg, die Hansastraße, die Brückenstraße. Namen, die man ihr einschärfte, wenn sie Dortmund lieben lernen wolle.
Dort, wo der Krieg Wunden, die noch nicht wieder geschlossen waren, hinterlassen hatte, lockten breite Werbezäune und Plakattafeln die Menschen an. ›Westfälische Rundschau‹, ›Westdeutsches Tageblatt‹, ›Das grüne Blatt‹. In Riesenbuchstaben prangten die Namen und beherrschten das Bild der Straße.
Die Koffer wurden ihren Armen zu schwer. Aber sie fuhr nicht, weil sie jeden Pfennig sparen wollte. Sie setzte die Koffer einen Augenblick ab und blickte um sich. Dort war ein niedliches kleines Café. Die Buttercreme- und Sahnetorten im Fenster lockten verführerisch. Dort konnte man sich ausruhen und eine gute Tasse Kaffee trinken.
Beschämt nahm Lina ihre Koffer wieder auf. Fängt es schon an, schalt sie sich selbst. Sahne und Kaffee sind jetzt vorbei für dich.
Sie riß sich zusammen und ging weiter. Der Kirchturm, in dessen Nähe das Haus lag, das ihr Ziel war, wurde zwischen den Dächern sichtbar. Max Schmitz hatte ihr alles genau beschrieben. Unwillkürlich wurden ihre Schritte schneller.
Sie hatte es auf einmal eilig, die Geborgenheit ihres neuen Heimes zu erreichen.
Auspacken und schlafen, dachte sie. Nichts mehr hören und sehen heute. Morgen dann wird alles leichter sein, und übermorgen … und nächste Woche. So wird sich Tag an Tag reihen, bis die Stunde gekommen sein wird, in der Fritz und ich endlich zusammen sein werden.
Fritz … laß mich nicht zu lange mehr warten …
Bitte … bitte …
Ich bin im Herzen immer deine Frau geblieben … und ich will sie endlich wieder sein.
Mit einem scheuen Lächeln auf den Lippen schellte sie an der Tür, welche für sie die Pforte war zu einem neuen Lebensabschnitt … einem kurzen Lebensabschnitt … einem teils fürchterlichen, teils wunderbaren.
Als es Abend wurde und die Straßenlaternen aufflammten, stiegen Fritz Bergschulte und Friedel Herten aus dem Omnibus, der sie aus der grünen Umgebung Dortmunds zurück in die rußige Stadt brachte. Sie hatten blanke Augen, lachten viel und waren von der Sonne im Gesicht etwas gerötet. Als sie jetzt über den Bahnhofsplatz gingen, hakte sich Friedel bei Fritz ein und lehnte den Kopf an seine Schulter.
»Das war ein schöner Sonntag, nicht wahr, Fritz?« sagte sie und drückte seinen Arm an ihre junge Brust.
Bergschulte nickte, während ihm ein heißes Rieseln über den Körper lief.
»Mir ist noch immer, als träumte ich«, sagte er leise. »Diese Stille in den Wäldern, der wundervolle Duft der Blüten … und du … Es war wie im Märchen: eine Elfe zeigte dem müden Wanderer eine erfrischende Quelle; nur in den Schlaf sang sie ihn nicht.«
»Bist du wirklich glücklich?« fragte sie.
»Wunschlos.« Er legte den Arm um ihre Schulter und streichelte dabei ihre Haare. »Sie sind wie Seide«, flüsterte er ihr in die Ohren. »Wie Engelshaar …«
Sie lachte und blickte zu ihm empor, indem sie den Kopf in den Nacken legte. Ihre Lippen waren ganz nah vor seinem Mund, halb geöffnet, die Zähne blitzten und die kleine, flinke Zunge sandte mit der Spitze zwischen ihnen Verführungssignale aus.
»Ich möchte dich wieder küssen«, sagte Bergschulte leise.
»Tu es doch!«
»Vor allen Leuten?«
Friedel Herten lachte. »Die sehen so etwas nicht. Wer achtet in Dortmund darauf, ob zwei Menschen sich auf der Straße küssen? – Komm, hab keine Angst …« Sie spitzte die Lippen und umarmte ihn.
Mit geschlossenen Augen küßte Bergschulte sie und preßte sie wild an sich.
Zwölf Jahre Einsamkeit und Angst. Zwölf Jahre keine Frau …
Er zwang sich, den Kuß zu beenden, und ließ die Arme sinken.
»Was hast du?« fragte Friedel erstaunt und etwas verletzt. »Macht's dir keinen Spaß, mich zu küssen?«
»Doch, doch!« beteuerte er und strich sich über die Augen. »Friedel, wann sehen wir uns wieder?«
»Wann du willst, Fritz.«
»Morgen? Ich habe um sechs Uhr Feierabend. Wir können uns irgendwo treffen.« Seine Worte drängten hastig aus ihm heraus, damit sie es sich nicht etwa anders überlegen könne.
»Ich muß dich jetzt jeden Tag sehen, jawohl, jeden Tag … Friedel, es ist plötzlich alles so anders … so hell um mich, so frei, so voll Leben … Keiner ist mehr
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