Morgen ist ein neuer Tag
immer Feiertag im Lager. Dann wurden wir als Sondervorstellung der Reihe nach durchgeprügelt …«
Hans Herten zuckte zusammen. Dieser Satz eröffnete ihm die ganze Tragik, die der Mensch, mit dem er letzten Endes abrechnen wollte, durchlitten hatte. Dieser Mensch liebte ja nicht aus einer Augenblickslaune heraus seine Tochter. Dieser Mensch brauchte einen Halt und suchte ihn dort, wo man ihm ihn bot. Der Halt war Friedel, weil kein anderes Geschöpf vorhanden war, das sich um ihn kümmerte. Fast jedes andere weibliche Wesen hätte in dieselbe Rolle schlüpfen können.
Plötzlich empfand Hans Herten Mitleid mit diesem geschwächten, sichtlich entnervten Mann. Er faßte ihn unter und schob den Erstaunten in das Lokal, bestellte eine gute Flasche Mosel, bot ihm eine Zigarre an und lehnte sich in den kleinen Sessel, in dem er saß, zurück.
»Sie lieben also meine Tochter?« eröffnete er die Unterhaltung.
»Ja.«
Bergschulte zog an der Zigarre und blies den Rauch an die Decke, wobei er den Kopf in den Nacken legte. Schaudernd sah Herten, daß sich unter dem Kinn am Hals Bergschultes eine breite, rote Narbe von der einen bis zur anderen Seite zog.
»Was ist das für eine Narbe?« fragte er mit belegter Stimme.
»Die Narbe? Oh, – das war in der Nähe von Irkutsk. Dort hatten wir Mongolen zur Bewachung, und die machten sich einen Spaß daraus, ab und zu einen von uns zu strangulieren. Wenn man dann halb erstickt war, lockerten sie die Schlinge wieder und übergossen einen mit kaltem Wasser. Sie hatten dünne, gute Hanfseile, die tief ins Fleisch schnitten.«
Hans Herten wußte nicht, was er sagen sollte. Er kam sich auf einmal klein und erbärmlich vor, auch, wenn es um die Zukunft seiner Tochter ging. Mit unsicherer Hand führte er sein Glas zum Mund und schwieg eine Weile, ehe er meinte:
»Sie haben furchtbare Jahre hinter sich. Aber Sie hätten Friedel nie verheimlichen dürfen, daß Sie verheiratet sind.«
»Wer sagt Ihnen das? Sie sind falsch informiert. Ich war verheiratet, aber meine Frau hat mich für tot erklären lassen und ehelichte einen anderen. Ich bin also frei.«
»Das gilt doch alles jetzt nicht mehr. Ihre alte Ehe wird wieder aufleben.«
»Nein. Ich habe gestern meinen Anwalt gebeten, die Situation, so wie sie ist, bestehen bleiben zu lassen.«
»Was?« Hans Herten beugte sich vor. »Sie wollen sich von Ihrer tapferen, kleinen Frau abwenden?«
»Sie hat es mir vorexerziert«, sagte Bergschulte hart.
»Ihre Frau liebt Sie! Sie arbeitet für Sie! Sie will Ihnen helfen, alles zu vergessen! Ich weiß, jetzt glauben Sie meine Tochter zu lieben, aber das ist nur ein Rausch. Friedel ist das erste weibliche Wesen seit Jahren, das eine gewisse Saite in Ihnen zum Erklingen gebracht hat. Aber Ihre Frau, Ihr Sohn Peter – mein Gott, Bergschulte, die können Sie doch nicht einfach aus Ihrem Leben streichen!«
»Der Mensch kann viel, das habe ich gelernt.« Bergschulte blickte von seiner Zigarre auf. »Kennen Sie überhaupt meine Frau?«
»Sehr gut.« Herten ließ die Katze aus dem Sack. »Sie ist hier in Dortmund.«
»In – Dortmund?« Bergschulte blickte Herten höchst erstaunt an. »Wo? Als was?«
»Als zukünftige Reisesekretärin. Sie arbeitet sich ein.«
»Paul Ermann hat sie nach Dortmund geschickt?«
»Ganz recht, Paul Ermann. Ich kenne ihn gut. Und ich brauche schon lange eine Reisesekretärin.«
»Sie?« Bergschultes Fassungslosigkeit wurde noch größer. »Mein Gott, Lina ist bei Ihnen angestellt?«
»Ja.«
»Weiß … weiß Friedel das?« stotterte er.
»Noch nicht. Aber sie wird es erfahren müssen. Ich kann meiner Tochter nicht verheimlichen, daß der Mann, den sie liebt, schon gebunden ist. Das müssen Sie einsehen.«
»Einsehen? Ich soll etwas einsehen?« Bergschultes Gesicht rötete sich. »Hat man ein Einsehen mit mir gehabt? Was wollt ihr eigentlich alle von mir – Sie, Ermann, Dr. Schrader, Lina? Die Vergangenheit ist tot und sie soll das auch bleiben. Das sage ich nicht zum erstenmal. Was jetzt vor mir liegt, ist ein neues, ein schöneres Leben und ich will nichts mehr hören von dem alten, das vorausgegangen ist.« Und plötzlich schrie er fast:
»Was verstehen Sie davon? Sie haben den Krieg an der Front nicht mitgemacht, erzählte mir Friedel. Sie haben nicht in der Hölle gelegen. Sie gerieten nicht in Gefangenschaft. Sie wissen nicht, wie es ist, wenn ein Herz um Hilfe schreit und keiner gibt Antwort! Hilfe! schreit es, Hilfe – ich brauche Liebe, ich brauche
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