Morgen ist ein neuer Tag
das Blut ins Gesicht. Verlegen antwortete er:
»Hm – ja. Das ist nun mal so, Herr Doktor. Man will etwas Gutes tun und begeht oft die größte Dummheit. Aber es ist ja gar nicht anzunehmen, daß sich die beiden in Dortmund schon über den Weg gelaufen sind. Sie wohnen ja nicht in derselben Straße. Ich fahre auf jeden Fall morgen hinüber.«
»Morgen? Heute, Herr Ermann! Jede Stunde ist wichtig! Wie mir der Herr Oberstaatsanwalt zusagte, soll der Termin schon sehr bald anberaumt werden. Bis dahin muß auf unserer Seite alles so bleiben, wie ich es sage, denn nur wenn wir unangreifbar sind, können wir in einem Zuge gewinnen.«
Paul Ermann blickte auf seine Armbanduhr. In seinem Kopf schwirrten die Gedanken durcheinander.
»In einer Stunde fahre ich, Herr Doktor«, sagte er. »Soll ich Bergschulte noch etwas von Ihnen bestellen?«
»Ja, bitte. Sagen Sie ihm, daß ein Brief von mir an ihn unterwegs ist, den er beherzigen soll. Mehr nicht. Und viel Erfolg, Herr Ermann. Noch eins – alles deutet darauf hin, daß Herr Bergschulte in Dortmund ein zartes Erlebnis hatte, das ihn aus der Bahn warf. Versuchen Sie, diese Frau zu sprechen und umzustimmen. Vielleicht ist das aussichtsreicher, als mit ihm zu verhandeln. Zwölf Jahre Enthaltsamkeit zeitigen nun ihr Ergebnis. Wir dürfen uns aber davon nicht unseren Prozeß kaputtmachen lassen.«
»In Ordnung.« Paul Ermann schwitzte und schwitzte. »Ich werde die Frau suchen. Und wenn's nötig ist – Herr Doktor – für meinen Freund opfere ich mich selbst … wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Lachend legte Dr. Schrader auf. Er kam sich vor, als habe er in einer Schlacht eine wichtige Stellung erobert, von der aus man die feindliche Überlegenheit, die plötzlich drohte, wieder zunichte machen konnte. Und abermals fand er, was er in den langen Jahren seiner Praxis oft genug gesehen hatte und was als Sammelüberschrift vieler Prozesse gelten konnte: Die stärkste Macht im Menschen war die Leidenschaft, und es gab keinen, der nicht ihr Sklave war, wenn sie in ihm aufloderte.
Denn in jedem Menschen schläft der Urtrieb der Natur …
Das Schicksal ließ den Menschen, die es in seinen Fängen hatte, wenig Zeit, ihre Gedanken zu sammeln, sich selbst zu beobachten und dem Lauf der Dinge mit Verstand oder Herz eine kluge Richtung zu geben. Mit der Unerbittlichkeit ungeschriebener Gesetze griff es in das Leben ein und zog die Fäden mit einer Grausamkeit, die kein Erbarmen kannte. Da gab es kein Fragen mehr, kein Abwarten, kein Hinauszögern, kein Ausweichen, kein Überlegen – da wurde wie mit einer Faust die Seele dorthin getrieben, wo sie sich niemals zu finden dachte, ohne Frage, ob es schmerzen oder gar zum absoluten Untergang führen konnte.
Hans Herten saß zu Hause in seinem Herrenzimmer und rauchte eine Zigarre, als seine Tochter Friedel ein wenig scheu zu ihm ins Zimmer trat und sich ihm gegenüber in einen der großen Clubsessel setzte. Sie sah blaß aus, erregt, ängstlich, um ihren jungen roten Mund zuckte es nervös, und als sie nun dasaß, verkrampfte sie die Finger ineinander und legte sie in den Schoß.
Erstaunt sah Herten von seiner Abendzeitung auf.
»Was ist, mein Spatz?« fragte er. »Hast du wieder einen Wunsch? Wenn du deinem alten Vater mit einer solchen Miene gegenübersitzt, muß ich meistens das Scheckbuch zücken. – Neues Kleid?«
Friedel Herten schüttelte den Kopf.
»Neuer Mantel?«
»Nein, Vater.«
»Was dann?« Hans Herten legte seine Zigarre hin. »Wenn es ein Auto ist – Friedel – du weißt – das gibt es nicht. Ich liefere dich den heutigen Verkehrsverhältnissen nicht aus. Es gibt keine Fahrdisziplin mehr. Ich habe kein Interesse daran, mein einziges Kind durch die allgemeine Raserei auf der Straße zu verlieren.«
»Das gibt mir das Stichwort, Vater«, sagte Friedel tapfer. »Du hängst zu sehr an mir. Einmal muß ich ohnehin aus dem Haus.«
Hertens Augen weiteten sich. »Was soll das heißen? Willst du ausziehen?«
»Nicht so, wie du meinst, Vater. Ich will –« sie stockte, sie hatte Mühe, das Wort auszusprechen – »ich will heiraten.«
»Was? Heiraten?« Hans Herten lachte erleichtert auf und griff wieder nach der Zigarre. »Du Spatz willst heiraten? Wer ist denn der Auserwählte? Etwa der junge Moebius von meinem technischen Büro? Der Junge wird immer rot, wenn du in den Betrieb kommst. Oder gar der Buchhalter Frantzens?« Er lachte noch einmal auf. »Liebes Kind, das sind alles keine Männer für dich. Die
Weitere Kostenlose Bücher