Morgen komm ich später rein
Arbeitsweise in der Praxis erlebe.
Wie sah Ihr Arbeitstag früher aus?
Schriefer: Wir haben um neun Uhr morgens angefangen und vor acht Uhr abends bin ich nie nach Hause gegangen. Es waren in der Regel sehr
intensive Tage, man hat sehr viel telefoniert und E-Mails beantwortet. Die Arbeit bestand oft aus Dingen, bei denen die Organisation
sich sehr mit sich selbst beschäftigt hat. Und vielen Meetings, bei denen ja immer viele Abteilungen involviert werden müssen
und dann geht es oft weniger um das Ergebnis als darum, dass jede Abteilung ihren Redeanteil hat und sich Leute profilieren
wollen.
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War es denn immer so stressig?
Schriefer: Nein, es gab auch Phasen, in denen wir nicht so viel zu tun hatten, aber dann ist man halt trotzdem bis um sechs im Büro
geblieben. Weil man das Signal geben musste, dass man leistungsbereit ist. Leistungsträger gehen einfach nicht um drei nach
Hause. Da denken die Kollegen: Ist der schon gekündigt?
Wie ist Ihre Arbeit im Gegensatz dazu heute organisiert?
Schriefer: Diese Woche muss ich zum Beispiel einen Bericht für einen Kunden schreiben. Dafür habe ich sieben Tage Zeit. Wie ich mir
die Arbeit einteile, ist komplett meine Sache: Ich kann mich nachmittags im Café mit Freunden treffen, kann Dinge erledigen.
Es gibt eine klare Agenda, bis wann was fertig sein muss.
Was ermöglicht Ihnen diese neue Arbeitsweise an einem normalen
Arbeitstag, an dem Sie nicht beim Kunden sind?
Schriefer: Man geht einkaufen, hält Mittagschlaf und pflegt tagsüber auch mal soziale Kontakte, statt wie vorher mit Freunden nur abends
schnell in die Kneipe und dann ab ins Bett. Bei privaten Erledigungen hat man sich früher immer mit einem schlechten Gewissen
aus dem Gebäude geschlichen. Das ist eigentlich Unsinn. Menschen müssen mal einkaufen oder zur Bank und wer von neun bis 20
Uhr arbeitet, ist schon mal aus den normalen Öffnungszeiten raus. Ein Arzttermin ist ein sozial akzeptierter Grund, das Büro
zu verlassen. Aber Gründe wie Freunde treffen, Sport machen oder einfach mal ausschlafen sind sozial inakzeptabel, obwohl
sie – wie der Sport – vielleicht sogar die Leistung steigern.
Wann haben Sie gemerkt: Ich will das nicht mehr?
Schriefer: Ich habe mich immer öfter gefragt: Was mache ich eigentlich hier? Abends sitzt man noch da, der Flur ist schon leer. Ich
musste mich mit Dingen beschäftigen, von denen ich wusste, die sind nicht so wahnsinnig relevant für die Firma, aber aus politischen
Gründen muss das jetzt erledigt werden. Irgendwann hab ich dann die Entscheidung getroffen, dass ich gehen muss. Ich wollte
nicht gleich wieder arbeiten, sondern mich erst mal regenerieren.
Sie sind lange verreist …
Schriefer: Ich habe mich erst mal mit Fotografie beschäftigt, dann die Kamera genommen, einen Monat in Buenos Aires verbracht und bin
sieben |222| Monate von Feuerland bis Nordkolumbien durch den ganzen Kontinent gereist. Ich habe viel Zeit gebraucht, um Abstand zu gewinnen.
Noch fünf Monate nach der Kündigung, allein in den Anden in einem Zelt, hatte ich einen enorm realistischen Traum von einem
Meeting. Da habe ich gemerkt, wie lange die Arbeit in meinem Unterbewusstsein noch präsent war.
Sie sind aber kein Aussteiger, arbeiten heute wieder für einen Finanzinvestor
. Wie kam das?
Schriefer: Ich habe die Fotografie als Hobby behalten und mir gesagt: Schuster bleib bei deinen Leisten. Heute fällt der ständige politische
Beziehungs- und Organisationsaspekt des Büros weg, ich kann mich auf meine Arbeit konzentrieren. Und plötzlich bringt es enorm
Spaß zu arbeiten, wie ich erstaunt feststelle. Ich habe immer noch sehr intensive Arbeitsphasen, in denen ich keine Zeit für
Fotografie oder anderes habe. Das ist aber in Ordnung, weil ich weiß: Es ist temporär. Bei meinem alten Job wusste ich: Es
hört nie auf. Es wird immer so weiter gehen. Das vor allem hat mich demotiviert.
E-Mails bekommen Sie aber doch auch zu Hause oder unterwegs.
Schriefer: Ja, aber ich merke, dass ich nicht mehr jede so wichtig nehme. Und es bringt schon viel, wenn man nicht mehr jederzeit persönlich
erreichbar ist, indem jemand mal kurz im Büro reinschaut, oder man spontan zu Meetings dazu geholt wird, mit deren Thema man
dann doch eigentlich nichts zu tun hat. Auch Telefonkonferenzen dauern in der Regel kürzer als Besprechungen vor Ort, wo man
erst mal Small Talk macht, Kaffee trinkt und dann auf den Chef wartet, der eine halbe Stunde
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