Morgen wirst Du frei sein (German Edition)
Ich fluchte, tobte, bis eine Woche nach Jessicas Verschwinden ein dicker Beamter mit Schnauzbart und Haarkranz ein Einsehen hatte.
»Der gibt keine Ruhe. Ich mach das schon«, schickte er seinen jüngeren Kollegen weg, der nicht wenig Lust zu verspüren schien, mich mit Gewalt aus der Wache zu werfen.
Ich wurde in ein Zimmer gebeten, in dem außer einem alten Holztisch mit Computer und zwei wackeligen Drehstühlen keine Möbel standen. Die Wand zierte ein Fahndungsplakat aus den achtziger Jahren.
An seiner fleischigen Unterlippe saugend, tippte der Polizist konzentriert mit zwei Fingern auf einer abgegriffenen Tastatur meine Angaben in eine Bildschirmmaske. Dann ließ er sich meinen Ausweis zeigen und druckte eine Seite aus.
Jessica sei volljährig und geschäftsfähig. Es gebe keinen Grund und erst recht keine Pflicht für sie, sich abzumelden. Das war der Tenor des Vortrages, den mir der Beamte hielt. Ich nickte betäubt, obwohl ich nicht verstand, warum sich kein Mensch so sehr sorgte wie ich. Wieso hatte noch niemand nach Jessica gesucht? Warum gab es keine Vermisstenanzeige? War ich wirklich der Einzige, dem sie fehlte?
Ich unterschrieb das Protokoll und ging.
10. Kapitel
Ich arbeitete inzwischen jeden Tag in der Buchhandlung, pflegte die Datenbank, legte Suchbegriffe an, räumte Regale ein, notierte Fehlbestände. Trat trotz meines abweisenden Blicks ein Kunde mit einer Frage an mich heran, fingen Kollegen oder der Geschäftsführer ihn ab.
Ich war untauglich für Gespräche, welcher Art auch immer. Sprach mich jemand an, ignorierte ich ihn oder nahm ihn erst gar nicht wahr. Die Welt, in die ich mich zurückzog, hatte keine Türen, die von Menschen zu öffnen gewesen wären. Energischere Versuche, meine Isolation zu durchbrechen, quittierte ich mit Aggression.
Also ließ man mich in Ruhe. Selbst Thea ging mir aus dem Weg.
Besuchte ich eine Vorlesung, starrte ich aus dem Fenster. Der Platz neben mir blieb frei. Zu Hause verschwand ich ohne ein Wort in meinem Zimmer, wo ich im Internet nach Spuren suchte. Es gab keine. Jessicas Facebook-Profil zeigte keinerlei Aktivitäten, auf Twitter fehlten ihre täglichen amüsanten Bemerkungen, in den Foren, in denen sie sich regelmäßig hatte blicken lassen, war sie nicht mehr aufgetaucht.
Die Leere in mir wuchs. Der Schmerz, von dem ich geglaubt hatte, er könne nicht größer werden, verdrängte jede andere Empfindung. Meine Haut war taub, Geräusche kamen aus weiter Ferne, selbst intensive Farben verblassten zu Grau.
Ich versuchte, mich abzulenken. Ich arbeitete, wusch das Auto, hackte bergeweise Holz, schippte Schnee, wann immer ein paar Flocken vom Himmel rieselten, räumte den Schuppen auf, reparierte den Zaun. Gab es nichts mehr zu tun, verkroch ich mich im Bett, das Gesicht zur Wand gedreht.
Eines Abends stand ein Streifenwagen im Hof, als ich nach Hause kam. Panik ergriff mich. Ging es um Jessica? War ihr etwas zugestoßen? Hatte man sie gefunden?
An meine Mutter dachte ich nicht.
Ich rannte ins Haus und stieß heftig mit einem Polizeibeamten zusammen, der seine Mütze in der einen und ein Klemmbrett in der anderen Hand hielt.
»Dieser ungestüme junge Mann ist wohl der Herr des Hauses?«, zwinkerte er Thea zu.
»Das ist Christian«, nickte sie.
»Wissen Sie was von Jessica?«, unterbrach ich sie, schwer atmend. »Ich habe sie vermisst gemeldet. Sie ist meine Freundin.«
»Wir suchen nach ihr«, beruhigte er mich.
Dann sprach er an mir vorbei mit Thea: »Mittlerweile haben sich auch ihre Eltern an uns gewandt. Hohe Tiere, wie es scheint. Da wird kräftig Dampf gemacht, sämtliche Einheiten auf Los. Na ja, Geld und Macht, ich sag´s ja immer wieder.« Er schüttelte in schlecht gespielter Fassungslosigkeit den Kopf.
Thea nickte. »Unsereins kann kaltblütig ermordet und im Moor versenkt werden, das kümmert keinen. Hat einer Einfluss, am besten noch politischen, geht einfach alles. Und das schneller, als man glauben kann.« Sie warf mir einen Blick zu. »Stimmt doch, Christian?«
Ich ignorierte sie. »Darf ich endlich erfahren, was nun passieren soll? Gefunden haben Sie Jessica offenbar nicht. Und wie geht es jetzt weiter? Wie und wo wird sie gesucht?« Ich schrie fast.
»Immer mit der Ruhe, junger Mann«, wandte sich der Polizist an mich. »Ein paar Angaben noch und wir können loslegen. Das volle Programm. Ohne Kosten und Mühen zu scheuen.« Er verdrehte die Augen, sah Thea dabei an. Die nickte.
Ich wäre diesem Idioten am
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