Morgen wirst Du frei sein (German Edition)
wollte.
»Klingelt´s?« Er grinste mich an. Der rechte Mundwinkel hob sich, die Augenbrauen formten sich zu perfekten Dreiecken. Ob er diesen süffisanten Ausdruck vor dem Spiegel geübt hatte?
»Es klingelt. Sorry, ich war ...«
»Weit weg, ich weiß. Du bist seit Wochen nicht mehr in unserem Universum unterwegs. Bis dahin warst du präsent, voll da. Und davor ...« Er lachte. »Na ja, davor gab es nicht.«
Germanist war dieser Typ auf keinen Fall, so drückte man sich nicht aus, wenn man Deutsch studierte. Ich kramte in meinem Gedächtnis. Soziologie?
»Psychologie. Neuntes Semester.«
Ich erinnerte mich. Ich hatte ihn immer dann getroffen, wenn ich ein Seminar besucht hatte, in dem es um Sprache als Ausdrucksform von Emotionen und Gefühlen ging.
»Dir geht´s scheiße«, stellte er fest. »Kann ich was für dich tun?«
Ich seufzte. Ein Psychologe, wenngleich ein ziemlich unkonventioneller, hatte mir gerade noch gefehlt.
»Psychogeschwätz. Das denkst du doch jetzt? Ist es nicht. Ich frage nicht, weil ich das im Studium lerne, sondern weil du mich interessierst. Als Mensch, nicht als Versuchskaninchen. Und ob du´s glaubst oder nicht, ich bin davon überzeugt, dass ich dich verstehe.«
»Soso«, murmelte ich.
Er lehnte sich zurück, legte den Kopf in den Nacken und begann, sich mit dem Stuhl zu drehen, immer schneller. Die Lehne protestierte laut. Plötzlich hielt er an, den Blick starr zur Wand gerichtet.
»Ich habe letztes Jahr meine Freundin verloren. Krebs. Es ging ruck zuck, sagten die Ärzte. Für mich vergingen diese drei Monate und fünf Tage alles andere als ruck zuck. Jeden Tag seitdem habe ich mir gewünscht, sie wäre einfach mit dem Motorrad an einen Brückenpfeiler gematscht.« Er schlug die rechte Faust in die offene Hand, sein Gesicht verzerrte sich. »Aus, vorbei. Amen. Aber dieses Kackleben ist kein Wunschkonzert. Es ist brutal und ungerecht. Mein Hass auf Gott und die Welt war grenzenlos, da war kein Platz mehr für Trauer.«
Er wandte sich mir zu. »Du trauerst. Das ist gut. Und bevor du widersprichst, lass dir sagen, dass sich der Tod und das spurlose Verschwinden eines geliebten Menschen nicht wirklich verschieden anfühlen. Verlust ist Verlust. Trauer ist Trauer. Einsamkeit ist Einsamkeit.«
Ich schwieg, malte mit dem Zeigefinger Kreise auf die Tischplatte.
»Vergiss das mit der Hoffnung«, las er erneut meine Gedanken. »Ich hoffe noch immer, dass alles nur ein Traum war, dass mein Schatz zurückkommt.«
»Scheiße«, flüsterte ich.
»Scheiße«, nickte er.
An diesem Abend war ich nicht mehr ganz nüchtern, stieg aber in meinen Wagen und lenkte ihn vorsichtig durch den Wald vom Bahnhof nach Hause. Wenigstens, dachte ich, habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich schon mit einigen Bieren intus Auto fahre.
Wir hatten in einer bei Studenten beliebten Kneipe getrunken, geredet und gelacht. »Zecke« arbeitete hin und wieder ebenfalls in der Buchhandlung, kümmerte sich um den Fachbereich Psychologie.
Wir waren uns dort nie begegnet, weil er frühmorgens, ich dagegen nachmittags am Computer schier endlose Listen eintippte, Datenübernahmen kontrollierte und Bestellungen zusammenfasste. Nachts und an den Wochenenden übernahm Zecke Wachdienste im Bezirkskrankenhaus kurz hinter der östlichen Grenze Münchens. Ob er denn niemals schlafen würde, fragte ich ihn. Er müsse Geld verdienen, winkte er ab. Außerdem läge ihm an den Patienten. Die Zeit verginge rasch, wenn man mit »Napoleon« und »Stalin« Mensch-ärgere-dich-nicht spiele. Er zwinkerte mir zu.
Thea schlief bereits, als ich das Haus betrat, beschwingt wie seit dem letzten Wochenende mit Jessica nicht. Ich ging ins Bad, putzte mir die Zähne und holte mir auf dem Weg in mein Zimmer ein Bier aus dem Kühlschrank. »Zahnpasta verdünnen«, kicherte ich albern vor mich hin, als ich den Bügelverschluss ploppen ließ.
Ich fuhr den Rechner noch, kontrollierte meinen Mail-Account und öffnete Facebook. Keine neuen Nachrichten, keine Antworten auf meine Suchanfrage. Wie jeden Abend klappte ich den Laptop zu, diesmal weniger enttäuscht als sonst. Ich nippte an meinem Bier, setzte mich auf mein Bett, nahm wahllos ein Buch zur Hand und begann zu lesen.
Meine Gedanken schweiften ab, kehrten zurück zu dem Gespräch mit Zecke. Sein Äußeres passte zu seiner Ausdrucksweise, nicht aber zu seinem Innenleben, auf welches er mir einen kurzen Blick gestattet hatte. Er gab sich ungehobelt, stammte jedoch aus einem
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