Morgen wirst Du frei sein (German Edition)
überlegte ich, was ich täte, bliebe Thea für immer fort. Hier in meinem Elternhaus wohnen bleiben? Mir in München ein Zimmer nehmen und an den Wochenenden nach Hause fahren? Das Haus verkaufen? Mir wurde schnell klar, dass diese Option ausgeschlossen war. Meine Mutter stand im Grundbuch als Eigentümerin, daran gab es nichts zu rütteln.
Und noch etwas wurde mir bewusst, als ich den Pinsel über das Holz gleiten ließ: Eines Tages würde meine Mutter vermisst.
Wir hatten zurückgezogen, fast einsiedlerisch gelebt. Kontakte zu Verwandten pflegten wir nicht, die wenigen Freunde waren nach Vaters Tod weggeblieben. Doch kein Mensch kann auf Dauer existieren, ohne hin und wieder ein Lebenszeichen hinterlassen zu müssen.
Und Mord verjährt nicht.
Mein Telefon spielte Lambada. Zecke. Ich meldete mich und er fragte, wo ich gewesen sei. Er habe mich vermisst.
»Alles Okay bei dir?«
Ich seufzte. »Ja, irgendwie schon. Thea hat mich gefragt, wie ich mir das alles vorstelle, mein Leben und so. Und dann ist sie weggefahren. Bis jetzt ist sie nicht zurück.«
»Sonderbar. Wo kann sie sein?«
»Keine Ahnung. Sie verschwindet öfter mal, allerdings nur für ein paar Stunden und nie über Nacht.«
»Klarer Fall. Sie hat einen Typen.«
Auf die Idee war ich noch nicht gekommen. Ich vermutete zwar, dass sie eine Wohnung haben müsse, zumindest eine Art Lager, denn sie hatte nur ihre Kleidung mitgebracht, sonst nichts. Aber einen Mann, eine Familie gar? Kaum vorstellbar. Ich zuckte die Schultern.
»Bist du noch da?«
»Äh, ja. Sorry.«
»Was tust du jetzt?«
Ich erzählte, dass ich lang geschlafen hatte und dass der Anstrich meiner Bank in der Sonne trockne.
»Gut. Komm zur Ruhe! Wenn was ist, ruf mich an!« Er zögerte. »Ach ja, ist das dein Auto auf dem Parkplatz? Ein weinroter Audi?«
Ich lachte. »Ja, der gehört mir. Frag bloß nicht!« Ich sah Zecke vor mir, wie er schief grinste, die Augenbrauen hochzog und den Kopf leicht schüttelte.
»Ich doch nicht. Mach´s gut und melde dich. Ich bin Tag und Nacht für dich da.«
Ich schluckte. Zecke war ein echter Freund. Einer, den ich mir so sehr gewünscht hatte. Einer, zu dem ich ehrlich sein sollte. »Ich weiß. Danke.«
Auch am nächsten Tag tauchte Thea nicht auf. Ich nutzte das warme Wetter und reparierte den Gartenzaun. Dann setzte ich die Türe des Schuppens instand, befestigte eine lose Dachrinne und hängte die verrottenden und überflüssigen Fensterläden aus. Zuletzt begutachtete ich das Haus. Es benötigte dringend einen Anstrich. Ich überschlug die Fläche und beschloss, Farbe zu kaufen. Dazu musste ich den Bus nehmen und mit dem Zug nach München fahren, um mein Auto zu holen.
Wie früher, dachte ich. Wie lang ist dieses Früher eigentlich her? Mir erschien es, als läge der Tag, an dem meine Mutter und ich uns sonntags auf den »Tatort« gefreut hatten, eine Ewigkeit zurück. Es war zu viel geschehen, ich war kaum zur Besinnung gekommen. Von einer Verarbeitung dessen, was ich getan und was sich seither verändert hatte, ganz zu schweigen. Ich schüttelte mich. Zu viel für ein knappes Jahr. Zu viel für ein ganzes Leben.
Als ich in Haar aus der S-Bahn stieg, rief ich Zecke an. Er war nicht in der Klinik, sondern mit Bekannten unterwegs. Im Hintergrund hörte ich Stimmengewirr und Musik. Er versuchte, mich dazu zu bewegen, nach Schwabing zu kommen und mich ihnen anzuschließen, doch ich hatte keine Lust. Mir war nach Ruhe, Stille, nach Alleinsein.
Ich setzte mich in mein Auto, das nur widerwillig ansprang. »Wirst alt, was? Na komm, das packst du!«, ermunterte ich es. Ich fuhr nach Norden, lenkte den Wagen nach Moosburg, wo ich zur Amper hinunterging.
Am Ufer auf einem von der Sonne noch warmen Stein dachte ich über mein Leben nach, über Vergangenes und Künftiges, über Menschen und Gefühle. Ich vermisste meinen Vater, ich trauerte um Jessica, ich hasste Thea, ich mochte Zecke.
Und meine Mutter? Plötzlich erkannte ich, dass sie mir fehlte. Warum hatte ich ihr nie widersprochen? Nie den Mut bewiesen, ihr Verhalten mir gegenüber zu kritisieren? Warum hatte ich nicht getan, was ich bei Thea konnte: meinen eigenen Weg finden und gehen?
Weil ich ein Feigling war, hatte ein Mensch sterben müssen. Meine Mutter.
Ich starrte blicklos aufs Wasser.
18. Kapitel
Am Samstagmorgen wachte ich von Geschirrgeklapper auf. Da ist sie ja, dachte ich. Ich lauschte, schnupperte den Duft von Kaffee und frischem Toast. Ich lag im
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