Morgen wirst Du frei sein (German Edition)
meine Aufgabe vorläufig beendet; ich war zum Warten verurteilt.
Der letzte Kontakt mit meinem Betreuer, einem hochgewachsenen blonden Surfertyp, der garantiert ein Prädikatsexamen an der Wand seines Büros hängen hatte, lag drei Wochen zurück. Mehrmals war ich der Versuchung erlegen zum Telefon zu greifen, um mich von einer der professionell freundlichen Sekretärinnen abwimmeln zu lassen. Es würde seine Zeit brauchen, hatte man mir erklärt. Ich müsse Geduld haben.
Als der Alltag mein Leben wieder eingenommen hatte, das frühmorgendliche Laufen, die Arbeit im Büro und das abendliche gemeinsame Bier vor Zeckes Fernseher zur Gewohnheit geworden waren, kam der Anruf. Man lade mich zum ersten ‚Fallgestaltungstreffen‘ ein, wie die Sekretärin mir in druckfertigen Sätzen mitteilte. Das Team sei zusammengestellt, nun ginge es um Inhalte, die man gern mit mir besprechen würde. Wann? Morgen.
Ich verstand kaum etwas von dem, was der ehemalige Kriminalkommissar mit dem Rechtspsychologen so intensiv diskutierte, und noch weniger davon, was der Forensiker, der sich mit Tatortspuren beschäftigte, beizutragen hatte.
Dr. von Hamm war ebenso erschienen wie mehrere junge Juristen, die offensichtlich als Handlanger dienten. Sie gaben keinen Laut von sich, schauten nur selten auf, kritzelten unentwegt in Notizblöcke, hackten auf Laptop-Tastaturen ein.
Ich saß abseits und fühlte mich auch so. Niemand hatte seit der knappen Begrüßung das Wort an mich gerichtet. So nippte ich an dem hervorragenden Kaffee, lehnte mich in meinem Alcantarasessel zurück, betrachtete das hell gebeizte Mobiliar, das teurer aussehende Kaffeeservice und die geschliffenen Gläser, hörte zu und beobachtete.
Drei Stunden später waren sich die Beteiligten einig. Man werde Kontakt mit der Staatsanwaltschaft aufnehmen, den Fall vortragen und »die Bedingungen diktieren«, wie Dr. von Hamm es nannte. Man habe vor, parallel zu der Suche nach meiner Mutter und Spuren ihres gewaltsamen Todes Thea in Gewahrsam nehmen zu lassen. Indizien für eine Erpressung und natürlich für fortgesetzten Diebstahl gäbe es mehr als genug, lautete der Tenor der Fachleute am Tisch. Rasch zu beschaffende Beweise würden die Staatsanwaltschaft überzeugen: Die Aufnahmen der Überwachungskameras an dem Geldautomaten sowie Theas Anruf bei der Bank, um eine neue EC-Karte zu beantragen. Als Mitwisserin oder gar Mittäterin sei sie in jedem Fall anzuklagen.
»Und was passiert mit mir?«, fragte ich leise und stellte zu meiner Überraschung fest, dass ich durchgedrungen war, Aufmerksamkeit erregt, Schweigen ausgelöst hatte.
Alle Augen waren auf Dr. von Hamm gerichtet, der mich erstmals wahrzunehmen schien und nun nachdenklich über seinen Bart strich. Der Siegelring an seinem Finger funkelte.
»Wir werden mit dem Oberstaatsanwalt verhandeln. Er wird Sie in Untersuchungshaft haben wollen, wir plädieren auf Kaution. Ich meine, wohin sollen Sie denn flüchten, nicht wahr?« Überlegen lächelte er in die Runde, erntete eifriges Nicken. »Ein paar Tage, dann holen wir Sie raus.«
Mein Magen zog sich zusammen.
Der junge Anwalt, mit dem ich zuletzt allein im Besprechungsraum saß, warf mit einen mitfühlenden Blick zu. »Ich weiß, es ist schwer zu verstehen und auch zu akzeptieren, wenn Juristen austüfteln, was einen selbst betrifft. Mir ging es so, als ich vor gut zehn Jahren meine Eltern verlor und völlig Fremde darüber diskutierten, wo ich, der Minderjährige, unterkommen sollte. Heim oder Pflegefamilie? Verwandte hatte ich in Deutschland nicht. Ich bekam einen amtlichen Vormund, dem ich egal war, der aber entscheiden durfte, was gut und richtig für mich war. Ich wurde in ein Internat gesteckt, was zunächst für mich eine schreckliche Strafe war. Ich fühlte mich elend und einsam, begriff aber irgendwann, dass ich annehmen musste, was für mich vorgesehen war. Ich konnte es nicht ändern, also hatte ich mich zu arrangieren. Zwei Jahre strich ich im Kalender jeden Tag durch, bis ich endlich volljährig war. Dann war ich frei - und entschied, im Internat zu bleiben, mein Abitur zu machen und danach Jura zu studieren. Ein praktisch vorgezeichneter Weg.«
Ich begriff, was er mir sagen wollte. Auch ich hatte keine Wahl, musste mich fügen. Flucht? Der Gedanke war abwegig. Dr. von Hamm hatte recht: Ich hatte kein Geld, kein Ziel. Und was würde ich zurücklassen? Nicht das, wovon ich mich befreien wollte. Das trüge ich mit mir, wohin ich auch
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