Morgen wirst du sterben
hatte Sarah gefallen. Und dass die anderen in der Pause mit ihr Fußball gespielt und Pokemonkarten getauscht hatten.
Aber in der Mittelstufe hatten auch die Jungen kapiert, dass Sarah keine von ihnen war. Dass sie weder zu den Mädchen noch zu den Jungen gehörte.
Ich vergesse euch nicht. Als ob Sophia Sarah vergessen könnte! »Du musst dich entscheiden«, hatte Emily damals zu ihr gesagt. Da hatte sie sich entschieden. Gegen Sarah. Für sich selbst.
Ich muss mit Emily reden, so schnell wie möglich, dachte sie. Denn wenn Sarah Sophia eine Mail geschickt hatte, dann hatte Emily ebenfalls eine bekommen. Luzie wahrscheinlich auch. Und Emma und Marie. Aber Emily auf jeden Fall.
Sie war schließlich diejenige gewesen, die mit dem ganzen Mist angefangen hatte, dachte Sophia. Wenn Emily nicht angefangen hätte, wäre es nie so weit gekommen. Wenn ihr anderen nicht mitgemacht hättet, wäre es auch nicht so weit gekommen, sagte Sarahs Stimme in ihrem Kopf.
Dass sie sich noch so gut an ihre Stimme erinnerte! Es war fast ein Jahr her, dass Sarah die Schule verlassen hatte. Von einem Tag auf den anderen war sie plötzlich weg gewesen.
»Eure Mitschülerin kommt nicht mehr«, hatte ihre Klassenlehrerin, Frau Walch, eines Morgens verkündet. Mit todtrauriger Miene, so als ob Sarah gestorben wäre.
Eines Morgens, dachte Sophia. Wann genau war das gewesen? Irgendwann kurz nach dem Anfang des neunten Schuljahres. Nicht im Juli, da war sie sich sicher. Was sollte also dieses Datum, der 2. Juli? Emily weiß es, dachte Sophia. Ich muss mit ihr reden.
Sie holte ihr Handy aus der Tasche, um sie anzurufen, aber dann legte sie es wieder weg. Emily wohnte nur vier Straßen weiter. Sie würde bei ihr vorbeigehen.
Was willst du sie denn fragen, erkundigte sich Sarahs Stimme in Sophias Kopf. Ob sie sich genauso schuldig fühlt wie du? Da kannst du lange drauf warten, bis Emily so was wie Schuld empfindet.
Du hast doch keine Ahnung, gab Sophia zurück. Du warst doch so was von außen vor und daneben, was weißt du schon von Emily. Oder von mir.
Ich weiß alles, erwiderte Sarah und kicherte. Vor allem über dich. Lass mich raten, jetzt, wo ich nicht mehr da bin, machen sie dich wieder fertig …
Sophia hatte plötzlich das Gefühl, dass ihr jemand folgte. Sie warf einen nervösen Blick über die Schulter. Die Straße war leer, aber das bedeutete nichts. Vielleicht stand Sarah in einem Hauseingang oder lehnte hinter einem Baumstamm.
»Was hast du vor?«, murmelte Sophia.
Wart’s ab, sagte Sarah in ihrem Kopf.
Emily wohnte in einem hässlichen, gelb verklinkerten Mehrfamilienhaus, einem Haus, das nicht zu ihr passte. Eine Villa mit Pool und Tennisplatz hätte zu ihr gepasst. Oder ein altes Schloss. Prinzessin Emily. Wahrscheinlich ist sie nicht zu Hause, dachte Sophia, als die Gegensprechanlage zu summen begann.
»Ja bitte?«
»Hier ist Sophia Rothe. Ich möchte zu Emily.«
»Komm rauf.«
Ihre Klassenkameradin erwartete sie vor der Wohnungstür im Treppenhaus. Sie starrte Sophia so genervt an, als wäre sie ein Zeitschriftendrücker oder von den Zeugen Jehovas.
»Was gibt’s denn?«, fragte sie, wobei sie ihre perfekt geformten Augenbrauen nach oben zog.
»Ich muss mal mit dir reden«, keuchte Sophia, die vom Treppensteigen außer Atem war. Außerdem raste ihr Herz mit einem Mal vor Aufregung. Was für eine bescheuerte Idee, einfach hier vorbeizukommen.
Emilys Augenbrauen wanderten noch ein Stück weiter ihre Stirn hinauf. »Also?«
Unten im Haus ging eine Wohnungstür. Aus der Nachbarwohnung drang Musik. Sophia blickte sich nervös um. »Kann ich einen Moment reinkommen?«
Widerwillig deutete Emily auf die geöffnete Wohnungstür. »Durch den Flur, dritte Tür links.« Als ob Sophia nicht wüsste, wo Emilys Zimmer war.
Auf Emilys Bett lag ein junger Mann. Er starrte auf das Display seines Smartphones und hörte Musik. Als Sophia ins Zimmer trat, blickte er nicht auf.
Am liebsten hätte sie direkt wieder kehrtgemacht und wäre aus der Wohnung marschiert. Selbst wenn im Treppenhaus Sarah Volker mit einem Messer in der Hand gewartet hätte. Emily war keine Hilfe. Die Mail von Sarah hatte sie wahrscheinlich einfach gelöscht, ohne auch nur einmal mit ihren langen Wimpern zu zucken.
»Dario!«, sagte Emily jetzt in ziemlich scharfem Ton.
Der Typ hörte sie immer noch nicht. Er drückte selbstvergessen auf dem Display seines Handys herum, sein Kopf wippte im Takt der Musik, die Emily und Sophia nicht hören
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