Morgen wirst du sterben
konnten.
»Dariooo!« Jetzt stand Emily direkt neben ihm und brüllte in sein Ohr. Dario drehte den Kopf in ihre Richtung, dabei sah er Sophia und fuhr so erschrocken hoch, als wäre sie seine Freundin und hätte ihn bei einem heimlichen Date erwischt.
»Hi!« Er riss die Stöpsel aus den Ohren. Aus den Kopfhörern dröhnte Lady Gaga.
Emily stellte Sophia nicht vor.
»Was wolltest du mir denn jetzt sagen?«, fragte sie sie nur genervt. »Wir sind grade auf dem Sprung, also schieß los.«
Ihr Freund sah nicht so aus, als wäre er auf dem Sprung irgendwohin. Er saß jetzt auf dem Bett, strich sich mit einer etwas affektierten Bewegung die langen Haare aus der Stirn und blickte Emily vorwurfsvoll an.
»Hast du deine E-Mails heute schon abgerufen?«, fragte Sophia.
»Vor zehn Minuten.«
»Und?«
»Was und?«
»Hast du auch eine Nachricht von Sarah bekommen?«
»Bitte was? Von welcher Sarah?«
»Volker.«
»Hä?«
»Pickelsarah«, sagte Sophia.
»Ach die. Ich glaube nicht, dass die mir schreibt. Was will sie denn? Ein Klassentreffen organisieren?«
»Nee«, sagte Sophia. »Keine Ahnung, was sie will. Deshalb bin ich ja hier. Weil ich wissen wollte, ob sie sich auch bei dir gemeldet hat. Und ob du was damit anfangen kannst.«
»Was hat sie denn konkret geschrieben?«, fragte Emily. Man konnte richtig sehen, wie ihre Genervtheit sich in Neugierde verwandelte. Sie hat überhaupt nicht die Spur eines schlechten Gewissens, dachte Sophia beeindruckt.
»Nichts«, erwiderte sie. »Ich meine, so wirres Zeug halt.«
Vielleicht kam die Mail ja doch nicht von Sarah, überlegte sie plötzlich. Aber wer sonst könnte ihr so eine Nachricht schreiben? Ihr glaubt, ihr seid mich los. Aber ich vergesse euch nicht.
»Versteh ich nicht«, meinte Emily. »Ist sie etwa immer noch sauer auf uns wegen dem Blödsinn von damals? Das war doch nur Spaß.«
Sarah Pickle.
Emily und ihre Freundinnen hatten sie bei allen möglichen Gelegenheiten heimlich fotografiert. In der Umkleide in der Turnhalle, in der Mensa beim Essen, auf dem Schulhof. Und hatten die Bilder hinterher bearbeitet. Statt Unterhemd und Höschen trug Sarah auf dem Foto plötzlich Reizwäsche. Und sah aus wie ein heruntergekommener Pornostar in Aktion. Die Statusmeldungen textete Emily selbst, passend zu den sexistischen Darstellungen. Sarah Pevau ist heute wieder gaaanz scharf auf eure Kommentare. Und andere Wortspiele auf ähnlichem Niveau.
Sophia hatte für Emily die Fotos manipuliert, weil sie kurz vorher einen Photoshop-Kurs gemacht hatte und sich als Einzige mit digitaler Bildbearbeitung auskannte. Sie war wirklich nicht wild darauf gewesen mitzumachen. Am Anfang hatte sie sich sogar geweigert, Emily zu helfen. »Das ist doch total kindisch.«
»Klar«, hatte Emily zugegeben. »Aber lustig. Und wir verwenden doch nicht einmal Sarahs richtigen Namen. Weiß doch keiner, dass sie das ist auf den Bildern.«
Nur deshalb hatte Sophia sich auf die Sache eingelassen. Weil sie überzeugt gewesen war, dass es nur ein harmloser Witz war. Hahaha. Das war natürlich erst recht ein Witz. Sie hatte von Anfang an genau gewusst, dass Emily keine Grenzen kannte. Dass sie nicht eher aufhören würde, Sarah zu quälen, bis diese am Boden lag. Nicht weil sie Sarah hasste. Im Grunde genommen hatte Emily gar nichts gegen sie. Sarah war keine Gegnerin für sie, sie war wie einer der Tintenfische, die sie in der siebten Klasse im Biounterricht seziert hatten. Eine Spezies, die sie untersuchte, um mehr über ihre Eigenheiten und Verhaltensmuster herauszufinden. Sarah war für Emily ein Experiment.
»Keiner kommt auf sie«, hatte sie Sophia versichert. Aber natürlich kamen alle auf Sarah, weil Emily und die anderen die Facebookadresse überallhin verteilten. Die Einzige, die nichts von der Seite ahnte, war Sarah selbst. Als sie endlich dahinterkam und die Seite sperren ließ, hatte die virtuelle Sarah bereits 5000 Freunde akzeptiert, mehr ging nicht auf Facebook.
Sarahs Mutter marschierte schnurstracks zur Schulleitung und beschwerte sich. Der Direktor veranstaltete daraufhin eine wahre Hexenjagd, er ließ jeden aus der Klasse einzeln antanzen und tobte und schimpfte und drohte, aber glücklicherweise hatten so gut wie alle Dreck am Stecken. Keiner verriet Emily. Und auch Sophia kam ungeschoren davon. Allerdings war sie die ganze Zeit kurz davor gewesen, sich selbst zu stellen. Das Einzige, was sie daran hinderte, war die Vorstellung, dass Emily sich mit einer ähnlichen Aktion
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