Morgen wirst du sterben
ihr die Augen ausgekratzt.«
»Hm«, machte Christian.
»Was – hm?«, fragte Julie.
»Während der ganzen Zeit, in der du mit Valerie geprobt hast – ist dir da nie der Gedanke gekommen, dass du selbst Schauspielerin werden könntest?«
»Nee. Das war immer Valeries Ding. Ich wollte Geologie studieren. Oder Ethnologie.«
»Geologie.« Er schüttelte den Kopf, als ob das die absurdeste Idee wäre, die er jemals gehört hatte. »Nee, das nehm ich dir nicht ab.«
»Das nimmst du mir nicht ab? Was soll das denn heißen?«
Am liebsten wäre sie aufgestanden und aus seiner Wohnung gerannt und hätte die Tür laut hinter sich zugeknallt. Du kannst mich mal, du Arsch! Aber wenn sie jetzt wegrannte, musste sie auch ohne ihn nach oben. Und wenn er nicht nachkam, musste sie die Nacht alleine verbringen. Und schon die Vorstellung brachte sie zum Hyperventilieren.
»Komm, sei nicht sauer!«, sagte Christian. »Ich find es super, dass du Schauspielerin wirst. Das ist perfekt. Valerie hat es nicht einmal versucht. Keiner kann wissen, ob sie es geschafft hätte oder nicht. Und keiner kann dich dafür verantwortlich machen, dass sie vor lauter Lampenfieber die Flinte ins Korn geworfen hat.« Er zog Julie an sich. »Ich bin stolz auf dich«, flüsterte er ihr zu.
Sein Atem an ihrem Ohr war so warm und weich. Und seine Worte taten ihr so gut. Auch wenn sie nicht stimmten. Für den Ausgang der Sache konnte Julie nichts, das war richtig. Aber sie war dafür verantwortlich, dass Valerie die Flinte ins Korn geworfen hatte. Wenn Julie ihr damals gut zugeredet hätte, wenn sie sie aufgebaut hätte, dann hätte sie die Prüfung gemacht. Stattdessen hatte Julie nur davon gesprochen, wie stressig und unsicher und hart das Leben als Schauspielerin war.
»Kannst du mir das Lied mal vorsingen?«, fragte Christian.
Sie sah ihn entgeistert an. »Welches Lied?«
»Na das, mit dem du die Prüfer überzeugt hast. Ich würd es gerne hören.«
»Quatsch! Ich kann doch jetzt nicht einfach so drauflossingen!«
»Warum denn nicht? Damals hattest du doch auch keine Begleitung, oder? Komm, bitte, Julie! Tu’s für mich!«
»Das Lied ist total scheiße. Echt. Ich hab’s nur gesungen, weil mir so spontan kein anderes einfiel.«
Christian bettelte und Julie wehrte sich, aber am Ende gab sie doch nach. »Also gut. Wenn du dann Ruhe gibst.« Sie erhob sich.
Er setzte sich ganz aufrecht hin. »Super. Applaus!«
»Hör auf. Sonst sing ich nicht.«
Er nickte hastig.
Sie schloss die Augen, atmete ein paarmal ein und aus. Und dann begann sie zu singen.
»Paranoia, I feel all possessed.
Paranoia, I am such a mess.
Paranoia, paranoia, I can’t get no sleep.
Paranoia, pull my hair and weep.
I lose my mind,
I go insane!
I go down, down, down. Help me, help me, pull me up!«
Sie sang alle vier Strophen, die sie auswendig kannte, seit sie drei oder vier Jahre alt war. Ihre Mutter trällerte das Lied beim Duschen, Kochen, Putzen und Fußnägellackieren. Ihr Lied. Ihr Durchbruch, der dann doch keiner gewesen war, weil Julie sie gestoppt hatte.
Ihrer Mutter hatte das Lied letztendlich kein Glück gebracht, aber vielleicht hatte es Julie die Tür zum Erfolg geöffnet.
»Paranoia, Paranoia!
Just hold me tight and let me feel you’re real, you’re really, really real.«
»Wow!«, sagte Christian, als sie fertig war. »Das war ganz große Klasse. Du bist echt atemberaubend, Julie.«
»Ach Quatsch!«, wehrte sie ab. »Red doch keinen Müll!«
Er schüttelte den Kopf. »Du wirst bestimmt berühmt. Und ich kann bis zu meinem Lebensende damit angeben, dass wir mal zusammen waren.«
»Du Idiot!« Sie lachte und ließ sich neben ihn aufs Sofa fallen. Dann wurde sie plötzlich wieder ernst. »Geh nicht nach Bonn am Wochenende«, flüsterte sie ihm zu. »Bleib hier bei mir. Bitte.«
Ihre Zungenspitze berührte sein Ohr. Darauf stand er, das wusste sie genau.
Er beugte sich zu ihr und küsste sie und knöpfte dabei ihre Bluse auf.
Gewonnen, dachte Julie.
»Ich muss da hin. Birger wäre superenttäuscht, wenn ich nicht komme«, flüsterte er.
»Und ich bin superenttäuscht, wenn du fährst«, säuselte Julie.
Er lächelte. »Tut mir leid, ich muss nach Bonn.«
»Du musst gar nichts.«
Christian stand auf. »Doch, Julie. Ich muss. Wenn ich die ganze Zeit hier bei dir bleibe, bin ich verloren.«
»Verloren?«, fragte sie verständnislos. »Was soll das denn wieder heißen?«
»Verloren. Du verschlingst mich mit Haut und Haar. Und verdaust
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