Morgen wirst du sterben
jetzt besuchen. Wann immer du willst, hat Frau Passwald gesagt, deine Mama freut sich, wenn du kommst. Aber das stimmt nicht, sie freut sich nicht, sie guckt immer gleich.
Sie redet auch nicht richtig mit mir. Also, sie redet schon, aber so, als wäre ich jemand, den sie nicht kennt. Einmal hat sie mich sogar mit Papa verwechselt und rumgeschrien, dass sie sich nicht schlagen lässt.
Sie freut sich, sagt Frau Passwald, sie kann es nur nicht so zeigen. Aber es tut ihr gut, wenn du kommst.
Ich frage mich, was gut daran ist, wenn man glaubt, dass einer einen schlagen will. Ist mir aber auch egal, ich will da nicht mehr hingehen. Papa ist es sogar lieber, wenn ich nicht hingehe, aber der hat jetzt sowieso nichts mehr zu melden. Weil ich nach den Ferien aufs Internat gehe. Da sind Jungs in deinem Alter, sagt Frau Passwald, das wird dir gefallen.
Was sie eigentlich meint, ist: Da ist keiner, der dich verdrischt, weil du deine Tasse nicht in die Spülmaschine gestellt hast oder den Müll nicht runtergebracht hast oder weil du einfach nur da bist. Oder weil du einen Brief kriegst.
Dad hat mir geschrieben: Mein lieber Großer, nun muss ich endlich mal wieder was von mir hören lassen. Ich hoffe, es geht dir gut. Wahrscheinlich bist du schon fünf Meter gewachsen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, und kannst mir auf den Kopf spucken. Schreib mir mal oder mal mir ein schönes Bild, dann freu ich mich. Dein D.
Kein Wort davon, dass ich ihn besuchen soll. Wahrscheinlich hat er keine Zeit, weil sie ja so fliegt. Bei ihm fliegt sie, bei mir nicht. Ich bin auch keine fünf Meter gewachsen, ich bin so gut wie gar nicht gewachsen.
Na ja, jedenfalls hat Papa den Brief gefunden, obwohl ich ihn unten in meinem Bettkasten versteckt habe. Und da ist er voll ausgerastet und hat mich so geschubst, dass ich gegen die Heizung geflogen bin. Gehirnerschütterung und zwei Rippen gebrochen und Krankenhaus und das war’s. Hinterher hat er geheult, aber ich nicht. Ich heul nicht mehr.
Frau Passwald sagt, dass er eine Therapie machen soll. Vielleicht kann er dann auch bald zu Mama in die WG ziehen, haha.
13
Philipp blieb an einer Parkbank stehen, er stützte sich mit beiden Händen auf die Lehne und keuchte. Was für eine bescheuerte Idee, bei diesem Wetter joggen zu gehen. Obwohl es schon sieben Uhr abends war, war es immer noch viel zu heiß. Und zu voll. Wie auf dem Oktoberfest wälzten sich die Leute durch den Englischen Garten und schwitzten vor Anstrengung, den Sommerabend zu genießen. Ich hätte ins Hallenbad gehen sollen, dachte Philipp. Da ist jetzt bestimmt keine Sau.
Er mochte keine Menschenmassen. Er war ein Einzelgänger, immer schon gewesen. In der Schule hatte er nur wenige Freunde gehabt, und zu allen hatte er inzwischen den Kontakt verloren. Geschäftlich fiel es ihm nicht schwer, auf Fremde zuzugehen und Kontakte zu knüpfen. Und um sein Privatleben kümmerte sich Vivian. Ihre Freunde waren jetzt auch seine Freunde: Cindy, Jessy, Anna, André, David und wie sie sonst noch alle hießen. Vivian organisierte Grillabende und Biergartenbesuche, Brunches, Ausflüge, Radtouren und Partys. Und Philipp fügte sich und machte mit, solange sie es nicht übertrieb.
Am liebsten bin ich allein mit dir, verteidigte er sich, wenn sie ihm vorwarf, dass er sich für keinen ihrer Freunde wirklich interessiere. Wo ist das Problem, fragte er, jede andere Frau würde sich darüber freuen.
Wenn sie nicht raus zum See gefahren wäre, säßen wir jetzt zusammen bei Amadeo, dachte er, während er mit der rechten Hand nach seiner rechten Fessel griff und den Fuß langsam nach oben zog, um den Oberschenkel zu dehnen. Vielleicht würde ich in diesem Moment den Verlobungsring aus der Tasche ziehen und ihr anstecken. Stattdessen hält ihr André jetzt einen Vortrag über die Fettverbrennung beim Spinning. Philipp schnaubte laut, dann ließ er seinen rechten Fuß los und griff nach dem linken.
Vielleicht hätte er ihr sogar von den SMS erzählt, wenn sie sich heute getroffen hätten. Na gut, die ersten beiden Nachrichten hätte er sicher verschwiegen, die wären ihm zu heikel gewesen. Aber die letzte SMS hätte er Vivian zeigen können.
Gott spart das Unglück des Gottlosen auf für dessen Kinder. Er vergelte es ihm selbst, dass er’s spüre.
Die Signatur darunter V. V wie Vivian. Ein Zufall, da war sich Philipp sicher. Denn diese Nachricht hatte nichts mit ihm zu tun, das Ganze war ein Irrtum. Er hatte keine Kinder, für die Gott das
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