Morgen wirst du sterben
versichert hatte, dass das vollkommen normal sei. Das erledigt sich mit der Zeit. Aber nun war die Vorstellung Wirklichkeit geworden.
»Wie heißen sie denn?«, fragte er mit belegter Stimme. Wenn Becker jetzt Willa gesagt hätte, wäre er wahrscheinlich ohnmächtig geworden.
»Ihr Bruder heißt Moritz. Und das Mädchen Sophia.«
Philipp notierte sich schwachsinnigerweise die beiden Namen auf seinem Zettel. Dabei hätte er sie auch so nicht mehr vergessen.
»Also, Sie melden sich dann bei den Kollegen in München?«, erkundigte sich Becker. »Bitte rufen Sie heute noch an und vereinbaren Sie einen Termin. Wie schon gesagt, es ist eine reine Routineangelegenheit und wird nicht lange …«
»Ich hab es mir überlegt«, unterbrach ihn Philipp und schlug dabei seinen Terminkalender auf. Er stellte fest, dass er in den nächsten Tagen drei wichtige Kundentermine hatte.
»Bitte?«
»Ich komme nach Düsseldorf. Wir sehen uns morgen im Präsidium.«
»Neun Uhr?«, fragte Becker. »Schaffen Sie das?«
»Sicher.« Philipp legte auf und ging zu Frau Klopp ins Vorzimmer, um ihr mitzuteilen, dass sie ihm einen Flug nach Düsseldorf und ein Hotel buchen sollte.
»Für heute?«, fragte sie entgeistert. »Und wie lange wollen Sie bleiben?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Und was soll ich Dr. Campbell-Schildknecht sagen? Der Termin mit dem Vorstand der Treubur AG steht seit vier Wochen.«
»Canceln.« Philipp zuckte mit den Schultern. »Familiäre Gründe. Es geht um meinen Vater.«
Frau Klopp machte den Mund auf und wieder zu wie ein Fisch auf dem Trockenen. Wieder standen ihr viele Fragen ins Gesicht geschrieben, auf die auch Philipp keine Antwort hatte.
Das Hotel war schäbig. Ein Doppelbett mit geblümter Tagesdecke. Senfgelbe Vorhänge. Hellblaue Fliesen. Immerhin kein dreckiger Teppichboden. Die Übernachtung kostete fast 200 Euro pro Nacht, ohne Frühstück.
»Wir haben Messe«, hatte die verschwitzte Dame am Empfang erklärt, als Philipp sich angemeldet hatte. »Sie können froh sein, dass wir überhaupt noch was freihaben.«
Egal. Er schob seinen Koffer unter den wurmstichigen Schreibtisch und ließ sich aufs Bett fallen. Starrte an die hässliche Porzellanlampe an der Decke, orange mit schwarzen Fliegendreckpunkten.
Gott spart das Unglück des Gottlosen auf für dessen Kinder. Er vergelte es ihm selbst, dass er’s spüre.
Inzwischen wusste er, dass das ein Zitat aus dem Alten Testament war. Aus dem Buch Hiob, in dem es um eine Wette zwischen Gott und dem Teufel ging. Satan setzte darauf, dass Hiob seinen Gott früher oder später verfluchen würde, wenn dieser ihn auf die Probe stellte. Gott hielt dagegen. Und testete Hiob, indem er ihm alles nahm: sein Vermögen, seine Kinder, seine Gesundheit. Alles wegen einer Wette. Wider alle Vernunft blieb Hiob stark im Glauben und Gott gewann die Wette, sonst hätte die Geschichte ja auch nicht in der Bibel gestanden.
Vor diesem Hintergrund war die Botschaft des anonymen Absenders eindeutig. Du, mein lieber Philipp, wirst sterben, weil ich eine Rechnung mit deinem Vater offen habe. Allerdings, dachte Philipp, würde es seinen Vater im Gegensatz zu Hiob nicht allzu sehr bekümmern, wenn Philipp starb. Ihn verband ja nichts mit seinem Sohn, außer dass er ihn gezeugt und eine Menge Kohle für ihn ausgegeben hatte. Bei seinen ehelichen Kindern sah die Sache natürlich anders aus. Philipp musste herausfinden, ob sie ebenfalls anonyme Nachrichten erhalten hatten. Und zwar bevor er sich morgen mit diesem Kommissar traf.
Er suchte in seinem Adressbuch nach der Nummer seines Vaters und tippte sie in sein Handy. Sein Herz schlug jetzt sehr schnell. Ob seine Geschwister überhaupt von seiner Existenz wussten? Wie sollte er sich ihnen vorstellen? Philipp Preuss mein Name, ich bin Ihr Halbbruder?
»Lächerlich«, murmelte Philipp.
Er legte das Telefon auf den Nachttisch und ging zur Minibar. Schnappte sich eine kleine Flasche Wodka und trank sie in drei Zügen leer. Er war das Trinken nicht gewöhnt, der Alkohol stieg ihm sofort zu Kopf und vernebelte alles, aber er erfüllte Philipp gleichzeitig mit einer gewissen Schwerelosigkeit. Eine Erleichterung. Jetzt kommt endlich Licht in die Sache, dachte er und nahm das Telefon wieder in die Hand. Und dann drückte er die Wahltaste.
W ir sind hier zu viert auf einem Zimmer. Echt der Hammer, dass es in diesem Scheißinternat keine Einzelzimmer gibt wie in Fürstenhof. Dabei zahlt der Alte hier mindestens genauso viel
Weitere Kostenlose Bücher