Morgen wirst du sterben
nach Österreich. Ihr Vater hatte ihnen das Haus gezeigt, in dem er aufgewachsen war. Und seine Grundschule. Aber das Einzige, was Sophia im Gedächtnis geblieben war, war ein großer schwarzer Hund, der vor dem alten Schulhaus gestanden und gebellt hatte.
»In Rosenheim ist er aufs Gymnasium gegangen.«
»Und hat Abitur gemacht. 1,1. Und dann ist er nach München und hat Medizin studiert«, ergänzte Moritz.
»Nach dem Studium hat er ein paar Jahre auf der Entbindungsstation in einem Krankenhaus gearbeitet und danach in einer Frauenarztpraxis. Später hat er sich in Düsseldorf niedergelassen. Mama war seine Sprechstundenhilfe. Sie haben ziemlich schnell geheiratet …«
»… weil ich unterwegs war«, ergänzte Moritz. »Und weiter?«
»Die Eltern von Papa kommen ursprünglich hier aus der Gegend. Und er hat keine Geschwister.« Sie hatten beide keine Erinnerungen an ihre Großeltern, die ein paar Jahre nach Sophias Geburt gestorben waren.
»Und Freunde von früher gibt es auch nicht«, sagte Moritz. »Da ist niemand, den er noch vom Sandkasten kennt. Oder von der Schule oder auch nur vom Studium.«
»Das ist nicht viel«, sagte Sophia.
»Wenn wir verstehen wollen, was hier abgeht, müssen wir mehr über ihn rauskriegen.«
»Und was schlägst du vor?«, fragte Sophia. »Eine Séance?«
»Ich dachte, wir gucken uns mal in seinem Arbeitszimmer um.«
»Was? Du willst in Papas Sachen rumschnüffeln? Das geht doch nicht!«
Moritz stand auf und blickte auf Sophia herunter. »Hast du es noch nicht mitgekriegt, Sophia? Irgendjemand spielt hier ein verdammt geschmackloses Spiel mit uns. Und wenn wir nicht bald dahinterkommen, worum es geht, dann …«
Er unterbrach sich und verließ das Zimmer. Sophia seufzte. Dann warf sie die Decke zurück und folgte ihm.
Moritz nahm sich den Computer vor, Sophia konzentrierte sich auf die Aktenordner, die in einem Regal neben dem Schreibtisch aufgereiht waren.
»Zum Glück ist er so ordentlich«, murmelte sie, während sie den ersten Ordner aus dem Schrank zog. Finanzen 2010 stand auf dem Rücken. Sparpläne, Rentenversicherungen, Fonds, alles war sorgfältig gegliedert. Sie blätterte durch die verschiedenen Rubriken und fand nichts Auffälliges. Sie hatte ja auch keine Ahnung, wonach sie suchte.
»Beim Abheften vielleicht.« Moritz scrollte währenddessen durch den Eingangsordner des Mailaccounts. »Aber seine Mailverwaltung ist total chaotisch … dass es eine Löschtaste gibt, scheint er noch nicht mitbekommen zu haben. Jeden Scheiß hat er aufbewahrt. Und alles wild durcheinander. Private Mails, Spam, Angebote an die Praxis, Newsletter.«
»Ist doch gut, wenn er nichts gelöscht hat. Vielleicht findest du was von V.« Sophia schob den Finanzordner wieder zurück und betrachtete nachdenklich die anderen Ordner. Wohnung. Versicherungen. Quittungen. Sie entschied sich für den Quittungsordner. »Guck doch mal die Mails an, die gestern Vormittag eingetroffen sind. Kurz bevor wir den Kater gefunden haben.«
»Hab ich schon. Da ist nichts. Jedenfalls nichts Anonymes.«
»Vielleicht hat der Typ ihm ja auch eine SMS geschickt. So wie dir.«
»Kann sein. Aber sein Handy ist ja nun nicht hier.«
Auch die Quittungen waren ordentlich nach einzelnen Monaten sortiert.
Staubsauger, Kerzenhalter, Tennissocken, Vorhangstange, Energiesparlampen – ihr Vater bewahrte sämtliche Belege auf, klebte sie ordentlich auf ein Blatt, das er dann lochte und abheftete. Wenn das Haus abbrannte, könnte er der Versicherung gegenüber seinen gesamten Besitz reklamieren. Falls er daran dachte, den Quittungsordner vor den Flammen zu retten. Aber auch das brachte ihnen keine neuen Erkenntnisse.
»Hier ist nichts«, meinte Sophia frustriert. »Ich hab ja auch keine Ahnung, wonach ich schauen soll.«
»Such doch mal nach Kontoauszügen. Die sind bestimmt aufschlussreich«, riet Moritz, ohne dabei den Blick vom Bildschirm zu wenden.
Natürlich hatte Herr Rothe auch die Bankbelege ordentlich abgeheftet. Sophia blätterte ratlos durch Hunderte von Seiten, auf denen die Kontobewegungen der letzten Wochen, Monate, Jahrzehnte verzeichnet waren.
»Konzentrier dich auf den Monatsanfang. Und schau dir die regelmäßigen Abbuchungen und Daueraufträge an«, meinte Moritz.
Die Miete für die Wohnung, Telefonrechnung, Handyabbuchung, die Tickets für die Rheinbahn, das Taschengeld für Moritz und Sophia, die Stadtwerkerechnung, Versicherungsprämien, ein Bausparvertrag, der Dauerauftrag für
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