Morgen wirst du sterben
Sophias Gitarrenlehrer und für Moritz’ Badmintonverein. Zwei Zeitungsabos. Die Kabelgebühren. Eine Dauerkarte fürs Schwimmbad. Das Theaterabonnement. »Mann, haben wir viele Ausgaben«, murmelte Sophia. Aber das war auch das Einzige, das ihr auffiel.
»Und du? Hast du irgendwas entdeckt?«, fragte sie Moritz.
Ihr Bruder schüttelte den Kopf.
»Das war echt eine Scheißidee.« Sophia gähnte. »Ich geh wieder ins Bett.«
»Spinnst du? Wir haben doch gerade erst angefangen.«
»Die Ordner geben überhaupt nichts her. Und wenn Papa was verstecken wollte, würde er es doch auch nicht abheften und hier ins Regal stellen.«
»Wer sagt denn, dass er was verstecken will? Vielleicht gibt es ja irgendeinen Aspekt in seinem Leben, den wir noch nicht kennen und der uns weiterbringt.«
»Aber nicht in diesem Regal.«
»Und da im Schrank?« Moritz wies auf den hohen Metallschrank neben der Tür. »Hast du da mal reingeschaut?«
Sophia zog die Schranktür auf und stöhnte laut. Die Leitz-Ordner zogen sich über fünf Regalbretter. »Wenn ich mir das alles vornehme, bin ich die ganze Woche beschäftigt.«
Moritz stand auf und trat neben sie. »Da oben die Ordner, das ist alles Kram aus der Praxis. Das braucht uns erst mal nicht zu interessieren. Und hier unten … Auto, Garten, Zeitschriften … kümmert uns auch nicht.«
»Guck mal hier!« Sophia zog einen Ordner mit der Aufschrift Sophia aus dem Schrank. »Wow. Er hat die Protokolle von allen Elternabenden seit der ersten Klasse abgeheftet. Und sämtliche Elternbriefe. Und Klassenlisten.«
»Das Gleiche gibt’s auch für mich.« Moritz zeigte auf den Ordner daneben.
»Hier steht Privat drauf.« Sophia griff nach einem Ordner auf dem untersten Brett.
»Das klingt doch gut«, meinte Moritz.
Er blickte ihr über die Schulter, während sie den Ordner auf den Schreibtisch legte und aufschlug. »Fehlanzeige«, konstatierte Sophia enttäuscht.
Kopien von ihren Geburtsurkunden, Impfpässen und Personalausweisen. Dahinter Kinderzeichnungen, die Einladungskarten zu Geburtstagen, Taufen und Konfirmationen. Sportauszeichnungen und Ehrenurkunden von Moritz und Teilnehmerurkunden von Sophia.
»Nichts«, murmelte Sophia enttäuscht und wollte den Ordner wieder schließen, aber im letzten Moment schob Moritz seine Hand dazwischen.
»Halt. Warte doch mal!«
»Was?«
Er zeigte auf die letzte Registerseite. »Sonstiges.«
Sophia gähnte wieder. Inzwischen war es fast eins, ihr Vater steckte Gott weiß wo – vielleicht in Schwierigkeiten, vielleicht aber auch in einem Nachtclub oder bei Bekannten. Auf jeden Fall verschwendeten sie hier ihre Zeit.
Moritz schlug das Registerblatt um. Dahinter fand sich nur ein einziges Dokument.
»Was ist das denn?«, murmelte Moritz.
Sophia riss die Augen auf. Sie war mit einem Mal hellwach.
Eine Scheidungsurkunde.
»Jochen Rothe wurde am 12. März 1988 von Birgit Rothe, geb. Preuss, geschieden«, murmelte Moritz.
»Papa war schon mal verheiratet«, flüsterte Sophia.
»Davon hatte ich keine Ahnung.« Moritz sah seine Schwester überrascht an. »Warum hat er uns nie was davon erzählt? Oder Sabine. Sie hat das doch auch gewusst.«
Aber Sophia erwiderte seinen Blick nicht. Sie starrte mit großen Augen auf den Absatz, der unter den Namen der ehemaligen Ehepartner stand.
»Das Kind Philipp Daniel Rothe, geb. 19. Januar 1987, wird unter die alleinige elterliche Sorge der Mutter gestellt. Bis zur gerichtlichen Klärung wird dem Vater kein Besuchsrecht erteilt.«
»Philipp Daniel Rothe«, sagte sie leise. »Wir haben einen Bruder.«
W enn es gar nicht mehr geht, muss man sich eben für eine Weile trennen, hat Frau Passwald zu Papa gesagt. Das verstehe ich, Dad hat sich ja auch von Mama getrennt, als es gar nicht mehr ging. Es ist ja nicht für immer, hat er gesagt, und das sagt die Frau vom Jugendamt auch. Aber Dad hat das vor zwei Jahren gesagt. Und Mama ist auch schon lange nicht mehr in der Klapse. Sie wohnt jetzt in einer WG . WG hört sich besser an als Klapse, aber es ist eigentlich fast das Gleiche. Nur ein bisschen schlimmer.
Weil die Leute in der WG kann man voll vergessen. Die kriegen ein Zimmer und Essen und wenn sie einkaufen gehen, kommt ein Betreuer mit und hilft ihnen, damit sie sich auf dem Weg zum Supermarkt nicht verlaufen oder das Geld verlieren oder so.
Abends kommt einer und macht das Licht aus und morgens ziehen sie die Vorhänge auf, weil die Verrückten nicht mal das auf die Kette kriegen.
Ich kann Mama
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