Morgen wirst du sterben
für ihn vorgesehene Unglück aufsparen könnte. Und er hatte auch keinen Vater. Er war bei seiner Mutter aufgewachsen und die war vor sechs Jahren gestorben. Ein Unfall, verursacht von einem besoffenen Geisterfahrer auf der Autobahn, sie war sofort tot gewesen. Zwei Tage vor der Beerdigung war Philipp achtzehn geworden. Drei Wochen später hatte er Abitur gemacht. Die Schule hatte ihm angeboten, die Prüfung aufzuschieben. »Lassen Sie sich Zeit und machen Sie es nächstes Jahr«, hatte der Direktor zu ihm gesagt.
Aber Philipp wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Alles. Die Prüfung, die Schule, die Trauer. Die mitleidigen Blicke der anderen. Er paukte wie ein Besessener, das war seine Art, den Schock zu verarbeiten, auch wenn der Schulpsychologe skeptisch den Kopf schüttelte. Sein Abi-Zeugnis hatte einen Durchschnitt von 1,9. Der Psychologe lächelte nur milde, als Philipp ihm davon erzählte. War ja klar, Noten zählten für ihn nicht, er interessierte sich nur für Traumata und Seelenschäden.
Bei der Testamentseröffnung hatte Philipp erfahren, dass seine Mutter ihm fast hunderttausend Euro hinterlassen hatte. Und dass sein Vater noch am Leben war. Mit beidem hatte er nicht gerechnet. Seine Mutter hatte als Chefsekretärin ziemlich gut verdient, das war ihm natürlich klar gewesen, aber darüber hinaus hatte eben auch sein Vater gut für ihn gesorgt. Der Mann, der laut Aussage seiner Mutter ein Jahr nach Philipps Geburt an einem Hirntumor gestorben war. Und nun war sie selbst tot und der Vater wieder auferstanden.
»Wissen Sie, wo er wohnt?«, fragte Philipp den Notar, nachdem er seinen ersten Schock überwunden hatte.
»Natürlich«, meinte der nach einem Blick in seine Unterlagen. »Aber wenn Sie auf höhere Unterhaltsleistungen spekulieren, lassen Sie die Finger davon. Ihr Vater zahlt mehr als den Regelsatz, da kann man nicht meckern.«
»Warum hat meine Mutter mir nie erzählt, dass er noch lebt?«, fragte Philipp.
Aber darauf hatte der Notar auch keine Antwort. Er druckte Philipp die Adresse seines Vaters aus. Jochen Rothe in Düsseldorf.
Philipp war auch mehrmals drauf und dran gewesen, ihn anzurufen. Ein paarmal hatte er die Nummer sogar in sein Telefon eingetippt. Aber gewählt hatte er sie nie. Die Unterhaltszahlungen gingen jetzt direkt auf Philipps Konto, pünktlich zum Monatsersten trafen sie ein. Der Notar hatte seinen Vater über den Tod der Mutter informiert. Dennoch hatte Rothe sich nicht bei Philipp gemeldet. Kein einziges Mal.
Mutter wusste schon, warum sie mir erzählt hat, dass er tot ist, dachte Philipp bitter. Er zündete den Zettel mit der Telefonnummer seines Vaters an und sah zu, bis er verbrannt war. Das war natürlich albern, er kannte ja nun seinen Namen und die Nummer stand im Telefonbuch. Aber darum ging es nicht. Sein Vater war tot gewesen und auferstanden und jetzt war er für Philipp endgültig gestorben.
Philipp war sein ganzes Leben ohne Vater zurechtgekommen, nun war er volljährig und brauchte ihn erst recht nicht mehr. Mit dem ersparten Vermögen seiner Mutter, dem Waisengeld und den Unterhaltszahlungen kam er bestens zurecht. Er machte eine Ausbildung zum Programmierer und eröffnete sein eigenes Unternehmen. An den Wochenenden besuchte er oft seine Großeltern und eine Tante, die in Pasing wohnte. Dann lernte er Vivian kennen und verliebte sich in sie. Und stellte Yasmin als Sekretärin ein. Und dann …
»Na ja«, murmelte Philipp. Er stellte sich neben die Bank und drehte den Oberkörper aus der Hüfte her und hin und hin und her. Wippte auf den Fußballen. Und rannte wieder los. Aber nach ein paar Metern gab er endgültig auf. Vor ihm blockierte eine türkische Großfamilie den Weg. Außerdem schwitzte er schon wieder wie ein Pferd.
Er würde auf dem kürzesten Weg nach Hause gehen. Trinken. Duschen. Und dann? Was für ein Mist, dass Marcel ausgerechnet heute mit seiner neuen Freundin in die Berge gefahren war! Sie hätten sonst gemeinsam ins Kino gehen können oder in den Biergarten. Was Marcel wohl zu der neuesten SMS gesagt hätte?
Wenn der Typ dir die Nachricht ein bisschen früher geschickt hätte, hätten wir uns den peinlichen Auftritt bei dieser Tussi sparen können.
Nach dieser Nachricht war Yasmin wirklich endgültig raus aus der Sache, das stand fest. Aber wer steckte dann hinter den anonymen Nachrichten? Dass sie alle von demselben Absender stammten, lag ja auf der Hand.
»Irgendein Spinner«, murmelte Philipp, während er
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