Morgen wirst du sterben
richtig geschlossen hatte. Auch Moritz hatte sich ein Glas eingeschenkt, obwohl er nie etwas anderes als Bier trank.
Vielleicht sollte ich es auch versuchen, dachte Sophia. Vielleicht wird die Sache erträglicher, wenn man blau ist. Aber allein der Gedanke an Cognac machte sie schwindlig, also verzichtete sie lieber.
»Achtzehn Jahre«, murmelte Moritz. »Als diese Julie geboren wurde, war ich gerade mal ein Jahr alt.«
»Mir ging es nicht gut, damals.« Seine Mutter leerte ihr Glas und schenkte sich noch einmal nach. »Du warst ein anstrengendes Kind, du hast nie geschlafen und viel geweint. Ich war total fertig.«
»Du meinst, ich war schuld an Papas Seitensprung?«, fragte Moritz spöttisch, aber seine Mutter ging gar nicht auf die Bemerkung ein.
»Er war damals viel unterwegs. Fortbildungen, Kongresse. Und ich hier allein mit dem Kind, also mit dir, mir ist alles über den Kopf gewachsen. Manchmal bin ich morgens aufgestanden und hab geheult. Und währenddessen …« Sie schüttelte den Kopf und leerte ihr Glas und wollte wieder nach der Flasche greifen, aber Moritz war schneller. Er schraubte sie zu und stellte sie zurück in den Schrank.
»Wir haben einen Bruder und eine Schwester«, sagte Sophia. Ihre Zunge war schwer, als ob sie ebenfalls Schnaps getrunken hätte. »Philipp und Julie. Und zumindest Julie hat ebenfalls Drohmails bekommen.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte ihre Mutter.
»Sie hat doch vorhin hier angerufen. Warum hätte sie sich denn sonst melden sollen, ausgerechnet jetzt?«
Ihre Mutter nickte und blickte sehnsüchtig zum Schrank, in dem der Cognac stand, aber sie hielt sich zurück.
»Ich wusste, dass er immer wieder was hatte. Mit anderen Frauen. Einmal sogar mit einer Sprechstundenhilfe. Ich hab es immer gemerkt, wenn er mir untreu war.«
»Aber das mit Julie hast du nicht gemerkt«, stellte Moritz fest.
»Vielleicht ging es ja nicht lange. Ein One-Night-Stand.« Frau Rothe schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht fassen, dass er ein Kind gemacht und mir nie etwas davon erzählt hat. Achtzehn Jahre lang. Das ist so erbärmlich.«
»Nun weißt du, wie es für uns war, als wir von Philipp erfahren haben«, sagte Sophia. »Wieso hast du das Spiel mitgespielt? Ich meine, wenn er dich immer wieder betrogen hat, warum hast du ihn nicht vor die Tür gesetzt?«
»Mit zwei kleinen Kindern und ohne Arbeit?« Frau Rothe sah sie entgeistert an. »Ich war doch so schon überfordert. Das hätte ich nicht geschafft.«
»Also hast du die Augen zugemacht.«
»Euer Vater war eben so. Er konnte einfach nicht treu sein. Und ich wollte ihn nicht verlieren. Also hab ich es akzeptiert. Und es war richtig so. Er hat sich gebessert. Ich meine, das mit den Frauengeschichten hat einfach aufgehört.«
»Denkst du«, meinte Sophia. »Vielleicht ist er einfach nur geschickter geworden.«
»Ich muss mich vor dir nicht rechtfertigen.«
»Natürlich nicht. Aber ich könnte das nicht.«
»Sag das nicht«, meinte ihre Mutter leise. »Du hast keine Ahnung, wie das ist, Sophia. Du weißt nichts.«
Wo sie Recht hatte, hatte sie Recht. Sophia war nicht verheiratet, sie hatte noch nicht einmal einen Freund.
»Ich frag mich, was mit Papa ist«, sagte Moritz leise.
»Vielleicht hat dieser Philipp ihn ja entführt«, murmelte Sophia. »Oder es war Julie.«
»Warum sollten sie so etwas tun?«
Sie zuckte mit den Schultern.
Ihre Mutter erhob sich. Einen Moment lang stand sie leicht schwankend da, dann bewegte sie sich in Richtung Terrassentür.
»Wo willst du denn jetzt hin?«, fragte Moritz entgeistert, als sie sie öffnete.
»Eine rauchen«, gab sie mit belegter Stimme zurück. »Ohne Alkohol und Zigaretten übersteh ich diese Nacht nicht.«
Sie war gerade draußen, als das Telefon klingelte. Diesmal schaltete Moritz das Aufnahmegerät an, dann nahm er den Hörer ab.
»Hier ist Philipp Preuss«, tönte eine Männerstimme durchs Zimmer. Moritz hatte den Lautsprecher angeschaltet.
»Hi, Philipp.« Moritz klang ganz ruhig, so als ob er jeden Tag mit seinem Bruder telefonierte. »Ich bin Moritz.«
»Ich … äh … bin jetzt in Düsseldorf«, sagte Philipp.
Sophia blickte nach draußen in den Garten, in dem es langsam dunkel wurde. Ihre Mutter war nur noch schemenhaft zu erkennen, aber die Glut der Zigarette leuchtete zu ihnen herein. Immer wenn ihre Mutter einen Zug nahm, wurde der leuchtende Fleck größer, wie ein Tier, das ruhig atmete.
»Warum kommst du nicht einfach her?«, fragte
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