Morgen wirst du sterben
dass sie am nächsten Tag nach Düsseldorf fahren wollte. Er hatte seine Sorgen und sie hatte ihre.
Hinterher saß sie am Küchentisch, das Telefon in der Hand. Sie hätte gerne mit jemandem gesprochen, aber sie wusste nicht, mit wem. Das Fertiggericht, das sie sich aufgewärmt hatte, wurde langsam kalt. Sie hatte keinen Appetit.
Morgen lerne ich meine Schwester und meinen Bruder kennen, dachte sie. Sie spürte, dass das ihr Leben verändern würde.
Vom Düsseldorfer Hauptbahnhof nahm sie ein Taxi, dann stand sie eine halbe Stunde vor dem rot verklinkerten Altbau, in dem ihr Vater mit seiner Familie wohnte, und konnte sich einfach nicht dazu durchringen zu klingeln.
Mein Vater ist weg, hatte das Mädchen, ihre Schwester, gestern zu ihr gesagt.
Vielleicht war er auch heute nicht da. Es war schließlich Freitag, die Arztpraxen waren nachmittags geschlossen, aber das bedeutete ja nichts.
Julie trat von einem Fuß auf den anderen. Eine alte Dame ging mit einem Hund an ihr vorbei und warf ihr einen misstrauischen Blick zu. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Ich geh erst mal zu Nina, dachte Julie, meine Sachen abstellen, und dann sehen wir weiter.
Aber das war albern. Die Sache wurde nicht leichter, indem sie sie aufschob, dachte Julie und rührte sich trotzdem nicht.
Dann klingelte ihr Handy. »Hallo?« Sie erwartete Christians Stimme, aber es war ihre Mutter.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wer gerade hier angerufen hat«, verkündete Marianne atemlos.
»Mein Vater?«, fragte Julie.
»Die Polizei. Dein Vater ist verschwunden. Am Wochenende haben wir noch von ihm gesprochen und jetzt … Ist das nicht ein grandioser Zufall?«
»Und da rufen die bei dir an? Glauben sie, dass du ihn versteckst?«
»Keine Ahnung, was sie glauben. Ich hatte irgendwie den Eindruck, dass sie von einem Verbrechen ausgehen. Dich wollten sie auch sprechen.«
»Mich? Wieso? Ich kenn ihn doch gar nicht.«
»Das kannst du diesem Kommissar ja selbst erzählen. Ich geb dir mal seine Telefonnummer. Hast du was zu schreiben?«
»Schieß los.« Während Marianne die Nummer diktierte, starrte Julie wieder auf die Fenster des Hauses auf der anderen Straßenseite. Sie hatte das Gefühl, dass hinter den Vorhängen jemand stand und zu ihr hinausblickte.
»Hast du das?«, fragte ihre Mutter.
»Ja«, sagte Julie, die keine Anstalten gemacht hatte, die Nummer zu notieren.
»Wo bist du eigentlich? In dieser Boutique?«
»Genau. Ich muss jetzt auch weitermachen.«
Sie legte auf und versuchte sich darüber klar zu werden, was hier los war. Was die SMS und ihre verwüstete Wohnung und ihre Halbgeschwister und das Verschwinden ihres Vaters miteinander zu tun hatten. Es war wie in dem Handarbeitskurs, den sie einmal an der Volkshochschule belegt hatte. Sie hielt eine Vielzahl an Fäden in der Hand und sollte sie zu einem sinnvollen Gebilde zusammenfügen. Aber je mehr sie sich abmühte, desto mehr verwirrte sich das Ganze.
In einem der Fenster gegenüber spiegelte sich die Nachmittagssonne. Es sah aus, als blinzelte das Haus ihr zu.
Julie gab sich einen Ruck und überquerte die Straße. Sie suchte den Namen ihres Vaters auf den Klingelschildern, fand ihn, klingelte. Sofort begann der Türöffner zu summen. Als ob da drinnen jemand auf sie gewartet hätte.
Das Mädchen, das die Wohnungstür öffnete, war ein bisschen jünger als Julie. Recht groß, ziemlich moppelig. Wilde braune Locken und ein hübsches Gesicht mit wunderschönen Lippen.
»Hallo. Ich bin Julie. Wir haben gestern miteinander telefoniert.«
»Ich bin Sophia«, sagte das Mädchen.
»Seine Tochter.«
»Genau wie du.«
Julie versuchte, irgendetwas Vertrautes in dem Gesicht der anderen zu erkennen. Eine Ähnlichkeit mit sich selbst. Aber da war nichts. Sophia war üppig, Julie dünn. Sophia hatte dunkles Haar, Julies Haar war blond und glatt. Sophia hatte ein hübsches Gesicht, aber Julie sah besser aus.
»Mein Vater ist verschwunden«, sagte Sophia.
Unser Vater, dachte Julie. »Ich weiß«, sagte sie laut. »Die Polizei hat meine Mutter angerufen.«
»Kommissar Becker ist gerade hier. Ich bring dich gleich zu ihm. Kommst du?«
Sophia drehte sich um und führte Julie durch einen langen Flur. Sie war barfuß, ihre nackten Fußsohlen schmatzten leise auf dem Parkett. Julies hochhackige Sandaletten klackerten dagegen laut, es hörte sich furchtbar affektiert an.
Das Wohnzimmer war groß und hell. Stuckverzierungen an der Decke, ein Klavier an der einen Wand,
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