Morgen wirst du sterben
Moritz.
»Gerne«, sagte Philipp. »Ich glaube, wir haben einiges zu besprechen.«
»Das glaube ich auch«, murmelte Sophia.
M anchmal schreib ich ihm, aber ich fang die Briefe immer nur an und bringe sie nie zu Ende.
Du wolltest doch wissen, was ich so mache, schreib ich. Gewachsen bin ich immer noch nicht so richtig, ich bin einer der Kleinsten in der Klasse. Aber das kommt schon noch, du bist schließlich auch groß.
In der Schule bin ich nicht gerade der Überflieger. Eher der Rausflieger, haha. Ich hab hier schon wieder die dritte Verwarnung, bei der nächsten Kleinigkeit krieg ich einen Schulverweis und dann heißt es: Tschau amore! Aber das passiert nicht, diesmal pack ich’s.
In der Klasse hab ich nicht so viele Freunde, die sind alle seit der Fünf zusammen und ich bin der Neue. Aber ich werd auch nicht gemobbt oder so. Ich bin halt da.
Ich lese jetzt oft in der Bibel, schreibe ich. Es ist eine richtige Sucht, ich komm nicht mehr von dem Zeug los. Es hat angefangen, weil Markus seine Bibel vergessen hat, als er ausgezogen ist. Seine Alten sind in so einer Sekte und Markus auch. Er hat ständig in der Bibel gelesen. War ihm egal, dass sich alle über ihn lustig gemacht haben. Als er ausgezogen ist, hat er die Bibel dagelassen, das war bestimmt kein Versehen. Er wollte, dass sie jemand findet und liest und vom Heiligen Geist erfüllt wird und bekehrt wird. Jemand wie ich.
Ich hab sie ja auch gefunden und in den Müll geschmissen, aber dann hab ich sie wieder rausgeholt. Nur mal sehen, was da so drinsteht. Und jetzt lese ich ständig drin, genau wie Markus, schreibe ich.
Nur dass ich nicht an den Scheiß glaube, also an den lieben Gott, an den glaub ich nicht. Der kommt in der Bibel aber auch nicht vor, nur im Reliunterricht. Der Gott in der Bibel ist nicht lieb.
Die Gottlosen müssen zuschanden werden und schweigen in der Hölle.
Das steht da drin, Original. Das ist doch Hammer, oder?, schreibe ich.
Manchmal schreib ich auch von Elli. Sie ist in der Parallelklasse, ich seh sie nicht so oft, nur in Französisch sind wir zusammen. Ich bin echt schlecht in Französisch, weil ich mich überhaupt nicht konzentrieren kann. Ich muss immer nur Elli ansehen. Sie hat so wahnsinnig schöne Locken. Ich stell mir vor, dass ich meine Hände in ihre Locken stecke. Einfach nur reingreifen und gucken, wie sich das anfühlt. Ich würd natürlich auch gerne wissen, wie sich der Rest von Elli anfühlt.
Schreib ich und dann schmeiß ich den Brief in den Müll.
So was will doch keiner lesen. Und überhaupt, vielleicht stimmt die Adresse ja auch gar nicht mehr.
15
Nach dem Telefongespräch mit ihrer unbekannten Schwester beschloss Julie, nach Düsseldorf zu fahren. Eine Schulfreundin von ihr studierte dort, sie hatte Julie schon oft eingeladen. Sie buchte online ein Zugticket und dann rief sie Renate an und nahm sich die nächsten Tage frei. Renate war nicht begeistert. Seit Julie bei ihr arbeitete, rannte ihr die Kundschaft förmlich die Bude ein. Manchmal hatte Julie das Gefühl, dass Renate sich nach den alten Zeiten zurücksehnte, in denen sie nur eine Handvoll Stammkundinnen gehabt hatte und kaum Umsatz.
Beim Nachhausekommen klingelte sie bei Christian, den sie in den letzen Tagen kaum zu Gesicht bekommen hatte. In dem Jugendzentrum, in dem er arbeitete, hatte es einen Selbstmord gegeben, deshalb machte er ständig Überstunden. Aber am Wochenende hab ich frei, da machen wir mal richtig einen drauf, hatte er Julie versprochen.
Sie hörte den hellen Zweiklang seiner Klingel durch die geschlossene Tür hindurch. Er war nicht zu Hause. Über sein Handy erreichte sie nur seine Mailbox.
Aber als sie ihr Essen aus der Mikrowelle zog, rief er zurück. »Ich bin in der Notaufnahme der Uniklinik.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Julie erschrocken.
»Nichts«, beruhigte er sie. »Einer unserer Stammgäste hatte einen Nervenzusammenbruch. Ich hab ihn in die Psychiatrie gebracht, nicht dass er sich am Ende auch noch was antut. Aber hier ist die Hölle los. Wird wohl noch eine Weile dauern, bis ich hier rauskomme.«
»Kommst du nachher noch bei mir vorbei?«
Er zögerte. »Es wird bestimmt spät.«
»Trotzdem.«
»Nimm’s mir nicht übel, Julie. Ich bin total fertig. Mir ist heute auch nicht mehr nach reden. Die Sache nimmt mich doch mehr mit, als ich dachte.«
»Wie du meinst.«
»Bist du jetzt sauer?«
»Quatsch. Wieso denn?«
»Wir sehen uns morgen.«
Sie verabschiedete sich, ohne ihm zu erzählen,
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