Morgen wirst du sterben
»Jetzt hast du eine. Nur dass sie nicht gerade klein ist.«
»Nee. Aber schön ist es trotzdem.«
»Ich hab mir auch immer eine Schwester gewünscht«, sagte Sophia. »Einen Bruder hatte ich ja schon.«
»Eine Schwester hast du jetzt auch.«
»Mal sehen, ob wir warm werden miteinander«, meinte Sophia. »Zeit dazu haben wir in den nächsten Tagen ja mehr als genug.«
Freitag, der 1. Juli. Der zweitletzte Tag ihres Lebens. Wenn es nach diesem verrückten V ging. Vielleicht würde Julie ihren angekündigten Todestag aber gar nicht mehr erleben. Sie fühlte sich sterbenselend.
Ihr Kopf dröhnte wie eine kaputte Leuchtstoffröhre, ihr Hals brannte, ihre Nase war zu. Hoffentlich kam Philipp bald mit diesen verdammten Tabletten zurück.
Aber vielleicht war es ja gar nicht das Fieber, das ihren Kopf zum Dröhnen brachte, sondern die Angst. Die Gewissheit, dass jemand sie beobachtete.
Sie hätte nicht hierherkommen sollen. Ein einsames Haus an der Ostseeküste, was für eine bescheuerte Idee! In ihrer Wohnung in Hamburg wäre sie viel sicherer gewesen als hier im Nirgendwo. Christian hätte sie beschützt.
Christian. Julie war bei Nacht und Nebel aufgebrochen, ohne ihn zu informieren. Sie hatte ihm nur einen Zettel in den Briefkasten geworfen. Bin ein paar Tage unterwegs, melde mich bald. Mach dir keine Sorgen. Julie. Was für eine schwachsinnige Nachricht! Es klang, als habe ihr beim Schreiben jemand eine Pistole an den Kopf gehalten.
Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Gleich zehn. Kurz nach Feierabend würde Christian vor ihrer Wohnungstür stehen und klingeln und sich wundern, dass sie nicht öffnete. Und dann? Würde er ganz bestimmt nicht in aller Seelenruhe zum Briefkasten gehen, um nachzusehen, ob Post für ihn gekommen wäre.
Er kannte doch die ganze Story, die anonymen Drohungen, dass ihr Vater entführt worden war. Er wusste, dass Julie krank war. Wenn ich nicht aufmache, bricht er die Tür auf, dachte Julie. Das Dröhnen in ihrem Kopf wurde zu einem Hämmern. Alle Handys bleiben aus, hatte Philipp gesagt. Erste Bedingung. Und alle hatten zugestimmt. Klar, das ist ja wohl selbstverständlich.
Aber da hatte sie nicht an Christian gedacht. Eine SMS , beschloss Julie. Ich schreib ihm eine kurze Nachricht, damit er informiert ist. Als sie nach ihrer Tasche griff, die auf dem Nachttisch lag, wurde ihr so schwindlig, dass sie fast aus dem Bett gefallen wäre. Ruhig, Julie. Ganz langsam.
Sie schaltete ihr Smartphone ein, öffnete den Nachrichtenordner und sah, dass sie acht neue Textnachrichten hatte, aber sie rief sie nicht auf. Wahrscheinlich hatte V sich wieder gemeldet. Noch ein Tag. Ich will es gar nicht wissen, dachte Julie.
»Bin weggefahren«, begann sie zu tippen. Als sie beim f von weggefahren war, klingelte das Handy. Sie nahm das Gespräch sofort an, damit Moritz das Klingeln nicht hörte.
»Julie!« Es war Christian. »Warum machst du denn nicht auf? Ich war schon zweimal oben bei dir und hab verzweifelt versucht dich zu erreichen.«
»Wieso bist du nicht bei der Arbeit?«
»Mann, ich mach mir Sorgen um dich!«
»Ich bin gar nicht zu Hause«, sagte Julie. »Christian, bei mir ist alles in Ordnung, wirklich! Aber ich bin für ein paar Tage untergetaucht.«
»Ohne mir was davon zu sagen? Sag mal, vertraust du mir nicht oder was ist los?«
»Doch.« Julie hustete.
»Mein Gott, Julie. Du klingst wirklich schrecklich. Bist du sicher, dass es dir gut geht?«
»Ich bin erkältet. Aber ansonsten ist alles okay. Ehrenwort. Ich meld mich übermorgen wieder, dann erklär ich dir alles.«
»Übermorgen? Julie, ich …«
»Ich muss jetzt auflegen. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Sie drückte den Anruf weg und hörte, wie Moritz an die Tür klopfte. »Herein!« Sie versteckte das Handy unter der Bettdecke.
»Alles klar bei dir? Ich hab was gehört … sag mal, hast du telefoniert?«
»Nee, Quatsch. Hier ist alles in Ordnung. Also, mal abgesehen von meinen verdammten Kopfschmerzen.«
»Philipp und Sophia sind gerade zurückgekommen. Ich bring dir eine Tablette, dann kannst du erst mal schlafen.«
Den Rest des Tages schauten sie fern, lasen und spielten Karten. Moritz brachte Philipp und Sophia das Pokern bei. Philipp hatte ziemlich schnell den Dreh raus, aber Sophia verlor in einer Tour. »Jetzt hab ich keine Lust mehr«, meinte sie. Sie ging zum Fenster und starrte nach draußen. Der Regen peitschte gegen die Scheibe, als wollte auch er ins Trockene.
»Immer noch Lust
Weitere Kostenlose Bücher