Morgendaemmerung der Liebe
eigentlich über Jessicas Privatleben wusste, trotz der langen Jahre, die sie sich jetzt kannten.
„Soll ich dich abholen?“, bot er an. „Dann brauchst du nicht mit deinem Wagen zu fahren.“
„Danke, das wäre nett. Im Moment habe ich wirklich nicht die Nerven, um mich durch den Londoner Verkehr zu quälen.“
„Dafür sind Freunde da.“ Er lächelte. „Halb acht?“, fragte er dann und sah auf seine Uhr. „Jetzt ist es halb fünf. Warum machst du nicht Schluss für heute, gehst nach Hause, ruhst dich ein wenig aus? Die Termine stehen alle, hier kannst du sowieso nicht mehr viel tun. Und außerdem ist es nicht gut fürs Geschäft, wenn du bei den Johnsons auftauchst und aussiehst wie jetzt.“
Ralph hatte recht. Die Johnsons bewegten sich in Kreisen, die sehr viel Wert auf Ruf und Aussehen legten. Und obwohl ihr Dekorationsgeschäft gut lief, konnten Ralph und Jessica es sich nicht leisten, potenzielle Kunden zu vergraulen.
Anstatt direkt nach Hause zu gehen, beschloss Jessica impulsiv, bei ihrem Friseursalon hineinzuschauen. Sie hatte Glück, ein Termin war gerade freigeworden. Als sie ihrem Friseur sagte, dass sie etwas Neues ausprobieren wolle, schürzte er die Lippen und betrachtete sie ausgiebig.
„Nicht kurz“, entschied er schließlich. „Aber etwas Frischeres, Jüngeres.“
Eine Stunde später stand Jessica wieder auf dem Bürgersteig und fragte sich, ob sie das Richtige getan hatte. Ihr Haar war zu einem knapp schulterlangen klassischen Bob geschnitten, das Deckhaar kürzer und mit Gel in Form gehalten. Als sie bei ihrem Stylisten unsicher angemerkt hat te, ob dieser lässige Schnitt nicht ein wenig zu jung für sie sei, hatte er nur lachend geantwortet, ihr vorheriger Haarschnitt sei vielmehr zu alt für sie gewesen.
Ihr fester Entschluss, sich eine Karriere aufzubauen und so die unglückliche und erniedrigende Beziehung zu Jake zu vergessen, hatte sie dazu gezwungen, sehr schnell erwachsen zu werden. Während der Jahre, in denen sie ihr Geschäft aufgebaut hatte, war Freizeit Mangelware gewesen. Dennoch – sie war schließlich erst vierundzwanzig. Warum nur fühlte sie sich dann schon so alt? Ihr Geschäft war ein Erfolg, sie war absolut unabhängig, ein rosiges Leben lag vor ihr … weshalb also fühlte sie sich leer und wie abgestorben? Warum konnte sie diese schreckliche Sehnsucht nach Jake nicht abschütteln? Es war richtig gewesen, ihn nicht zu heiraten. Aber ein winziger Teil in ihr fragte sich noch immer, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie seine wahren Motive nie erfahren hätte. Doch das war Spekulation. Unter den damaligen Umständen hatte sie das einzig Richtige getan.
Sie hatte ihre Selbstachtung bewahrt. Und ihr Herz gebrochen.
Als Ralph um Punkt halb acht vor der Tür stand, um Jessica abzuholen, riss er bewundernd die Augen auf. „Wow! Wo ist die müde Lady geblieben, die vorhin noch im Büro gesessen hat?“
Leicht nervös strich Jessica sich über den neuen Haarschnitt. „Gefällt’s dir?“
„Ich würde dir ja gern zeigen, wie sehr. Aber dann kämen wir zu spät zu den Johnsons“, sagte er grinsend.
Sie waren immer gute Freunde gewesen, gingen locker miteinander um, ohne dass je etwas Sexuelles zwischen ihnen aufgekommen war. Als Jessica Ralph einen warnenden Blick zuwarf, hob er abwehrend die Hände.
„Ist ja schon gut, Jessica, ich weiß, ich bin der Bruder, den du nie hattest. Aber heute Abend siehst du verdammt sexy aus, und ich werde sicher nicht der einzige Mann bleiben, der so denkt.“
„Was denn? Ein Haarschnitt und ein Cocktailkleid machen aus mir plötzlich eine Sexbombe?“
Er schüttelte den Kopf. „Nicht unbedingt. Sagen wir, das Potenzial war schon immer da, aber es ist das erste Mal, dass du auch etwas daraus machst. Irgendetwas muss mit dir passiert sein. Ich weiß nicht was – oder wer –, aber eines weiß ich: Heute werden die Männer nach deiner Telefonnummer fragen. Und das nicht etwa, weil du ihnen ihr Apartment einrichten sollst.“
„Ich bin vierundzwanzig, nicht sechzehn, Ralph, und durchaus in der Lage, die Wölfe von den Lämmern zu unterscheiden.“
„Eben.“ Mit einem leisen Seufzer hielt er den Wagenschlag für sie auf. Jessica bedeutete ihm viel. Es hatte eine Zeit gegeben, ganz am Anfang ihrer Bekanntschaft, als er sich mehr von der Beziehung zu ihr erhofft hatte. Doch in all den Jahren war Jessica ihm zu einer guten Freundin und Geschäftspartnerin geworden. Heute allerdings war seine alte Verliebtheit
Weitere Kostenlose Bücher