Morgendaemmerung der Liebe
oder?“
Da sie den leichten Vorwurf aus Beths Worten heraushörte, achtete Jessica darauf, ihre Stimme völlig neutral zu halten. „Die Yorkshire Dales sind weit von London entfernt.“ Ein kleines Lächeln eroberte ihre Lippen bei der Erwähnung von Queensmeade, ihrem Elternhaus. Jessica war glücklich gewesen in dem Haus, das trotz seiner Größe immer gemütlich war. Hier hatte sie ihre Kindheit gemeinsam mit ihrer Mutter, deren zweitem Mann Mark und seinem Sohn Jake verbracht. Wie unbeschwert sie tatsächlich aufgewachsen war, wurde ihr jedes Mal bewusst, wenn sie sich die Erzählungen ihrer Freunde über zweite Ehen der Eltern anhörte.
Sicherlich hatte es auch damit zu tun, dass sie erst zwei Jahre alt gewesen war, als ihr Vater starb. Deshalb hatte sie Mark anstandslos akzeptiert. Sie war bereit gewesen, ihn wie einen Vater zu lieben, ebenso wie er sie nie hatte spüren lassen, dass sie nicht seine eigene Tochter war.
Jessica hob den Kopf und sah zu Beth. Sie sah etwas in den Augen der Cousine aufflackern, und plötzlich griff ein Gefühl der Angst nach ihrem Herzen. „Was ist los, Beth? Stimmt etwas nicht mit meiner Mutter? Mit Mark?“
Wann hatte sie eigentlich damit begonnen, ihren Stiefvater „Mark“ zu nennen statt des liebevollen „Dad“? Es mochte so aussehen, als benutze sie den Vornamen, um zwischen ihrem Stiefvater und ihrem leiblichen Vater zu unterscheiden. Aber das stimmte nicht. Sie hatte diese Angewohnheit von Jake übernommen – natürlich! –, ohne dass es ihr überhaupt bewusst gewesen war.
In jenen Tagen war Jake ihr Idol gewesen. Sie hatte es damals für eine unermessliche Ehre gehalten, dieses außergewöhnliche Wesen zum Stiefbruder zu haben. Ihre Lippen verzogen sich bei dem Gedanken. Unfassbar, wie einfältig sie früher gewesen war.
„Ich hätte es besser nicht erwähnt“, drang Beths Stimme verlegen in ihre Gedanken. „Mark geht es nicht gut. Er hat schon seit Längerem immer wieder Schmerzen in der Brust. Der Arzt sagt, es sei das Herz. Im Moment ist es nicht schlimm, aber Mark darf sich nicht mehr anstrengen. Stress und Sorgen sind Gift für ihn. Deine Mutter will ihn überreden, dass er sich zur Ruhe setzt und die Leitung der Firma an Jake übergibt.“
Jessica konnte nicht verheimlichen, wie sehr es sie schmerzte, diese Information von ihrer Cousine zu erfahren und nicht aus erster Hand. Aber daran war sie selbst schuld. Schließlich hatte sie ganz bewusst Abstand von Zuhause gehalten. Sie hatte sich eine Karriere aufgebaut, die sie so weit wie nur möglich von ihrem Elternhaus fortführte. Dennoch: Sie telefonierte regelmäßig mit ihren Eltern, doch ihre Mutter hatte Marks Krankheit nicht erwähnt.
„Deine Mutter wollte dich nicht damit belasten.“ Beth sah die Trauer in Jessicas Augen. „Sie weiß doch, wie nah du und Onkel Mark euch steht.“
„Sicher. Ich kann mir nur beim besten Willen nicht vorstellen, wie es ihr gelingen soll, ihn in seinem Tatendrang zu zügeln.“
Beths Miene hellte sich auf. „Genau das hat Jake auch gesagt. Schon komisch, dass ihr beide in bestimmten Situationen immer ähnlich reagiert. Dabei könnt ihr euch selbst über Kleinigkeiten nicht einigen, wenn man euch zusammen in einen Raum steckt. Ich erinnere mich noch, auf unserer Hochzeit … Es sah aus, als würdet ihr euch jeden Moment an die Gurgel gehen.“
Jessica überprüfte millimetergenau den Lack auf ihren Fingernägeln. „Ich weiß. So war es immer bei uns.“
„Nein, war es nicht.“
Bei der Herausforderung in Beths Stimme setzte Jessicas Herz einen Schlag lang aus.
„Warum kommt ihr beide eigentlich nicht mehr miteinander zurecht?“, hakte Beth nach. „Deine Mutter und Mark sind traurig darüber, es setzt ihnen zu. Sie lieben euch beide sehr. Bei Familienfesten fällt es inzwischen jedem auf – entweder du bist da oder Jake, aber nie kommt ihr beide. Als hättet ihr euch abgesprochen.“
„Nun, das haben wir nicht“, erwiderte Jessica harsch und bereute ihren Ton, als sie Beths verletzte Miene sah. „Entschuldige, ich bin ein wenig gereizt. Ich hasse es, über den Atlantik zu fliegen. Und über die Zeitverschiebung bin ich wohl auch noch nicht hinweg.“
Zeitverschiebung? Verlegenheit und Demütigung trafen es wohl eher, doch diese Gefühle gehörten zu einer Jessica, die nicht mehr existierte und die es auch nie wieder geben würde. Die Jessica von heute war kühl und überlegen, ließ sich nicht zu sentimentalen Gefühlen hinreißen.
Beth schaute
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