Morgendaemmerung der Liebe
auch nur das geringste Gefühl entgegenzubringen?
Sie legte sich wieder auf den Rücken und starrte an die Decke. Es war still im Chalet, so als sei das Haus leer. Wahrscheinlich war Jake längst auf der Piste. Jessica musste sich zusammenreißen, um nicht das Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit in sich aufsteigen zu lassen.
Vergangene Nacht … Sie schloss die Augen und zwang sich, ruhig zu atmen. In seinen Berührungen hatten Leidenschaft und meisterliches Können gelegen. Rastlos begann sie, sich unter der Bettdecke zu bewegen. Also gut, er hatte sie begehrt und ihr Verlangen geweckt. Aber das war keine Rechtfertigung für die Intimitäten, die er ihr aufgezwungen hatte.
Aufgezwungen?, spöttelte eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf. Jessica beschloss, diese Stimme zu ignorieren und sich stattdessen auf den Hauptgedanken zu konzentrieren.
Nein, diese Art von lustvoller Spielart war etwas wirklich Wertvolles und sollte zwei Menschen vorbehalten bleiben, die sich wahrhaftig liebten!
Ihre innere Stimme verspottete sie weiter, dieses Mal für ihre Prüderie. Jessica stand auf und erschauerte in der kühlen Luft. Das Feuer im Kamin war längst ausgebrannt. Jessica duschte und zog sich an. In Kordjeans und dickem Wollpullover ging sie hinunter in die Küche. Jake hatte eine Nachricht für sie hinterlassen und den Zettel an die Kaffeemaschine gestellt.
Das Zimmermädchen war schon da. Ich habe ihr gesagt, sie soll Dich schlafen lassen. Frühstück steht im Kühlschrank. Komm zum Lunch in die Hotelbar.
Eine ziemlich lapidare Nachricht von einem frisch verheirateten Ehemann an seine Braut am Morgen nach der Hochzeitsnacht. Bedrückt brühte Jessica sich einen frischen Kaffee auf. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war schon nach elf.
Jetzt, bei Tageslicht, waren die Pisten und das kleine Dorf unten im Tal zu erkennen. Jessica ging ins Wohnzimmer und öffnete die Vordertür. Von hier aus war auch das Hotel zu sehen. Es war nicht weit entfernt, sondern in einem angenehmen Fußmarsch zu erreichen.
Sie trank ihren Kaffee, zog ihre Stiefel an und machte sich auf den Weg zum Hotel. Die Straße, über die sie gestern in der Dunkelheit mit dem Pferdeschlitten gekommen waren, wand sich in sanften Kurven durch einen Fichtenhain, vorbei an den anderen Chalets. Auf der gegenüberliegenden Talseite lagen die sanft abfallenden Hügel für die Skianfänger, auf denen um diese Uhrzeit reger Betrieb herrschte. Jake jedoch würde mit dem Skilift auf einen der anspruchsvollen Berge gefahren sein.
Eine hübsche junge Hotelmitarbeiterin begrüßte Jessica mit einem herzlichen Lächeln am Empfang und wies ihr den Weg zur Bar. Auf dem Weg dorthin griff sich Jessica einen Pistenplan, um die Skiabfahrten und ihre Schwierigkeitsgrade zu studieren.
Inzwischen war es fast halb eins geworden, und die Bar war voll besetzt. Jessica bestellte sich etwas zu trinken und setzte sich dann an einen Tisch, der gerade freigeworden war. Die meisten hier saßen in Gruppen zu viert oder zu sechst zusammen. Die Gesprächsfetzen, die Jessica auffing, bestätigten, was Jake ihr über den Ort erzählt hatte. Hierher kam man, um Ski zu fahren, nicht, um nur beim Après-Ski zu feiern wie an einigen anderen Orten. Anscheinend waren viele der Skiläufer Stammgäste und kannten sich seit Jahren.
Von ihrem Platz aus hatte Jessica freien Blick auf den Eingang. Daher sah sie Jake, bevor er sie erblickte. Sein schwarzer Skianzug betonte seine beeindruckende Statur, und schon begann ihr Puls zu rasen. Der Vormittag in der alpinen Wintersonne hatte die Bräune seines Gesichts aufgefrischt. Er neigte den Kopf zur Seite, und Jessica wollte gerade nach ihm rufen, als sie die Frau neben ihm erkannte.
Von einer Sekunde auf die andere erstarrte sie. Was machte er hier zusammen mit Wanda? Jener Frau, in deren Armen Jessica ihn vor Jahren überrascht hatte. Wieso war Wanda überhaupt hier? Die beiden unterhielten sich mit der Vertrautheit alter Freunde. Ehemaliger Liebhaber, verbesserte Jessica sich bitter. In diesem Augenblick wandte Jake den Kopf und erblickte sie. Es war zu spät, um ungesehen zu entkommen.
Er kam in Begleitung von Wanda auf sie zu. Als er Jessica erreichte, küsste er sie kurz. Dann hob er den Kopf und lächelte.
„Komm, Wanda, begrüße meine Frau, die Langschläferin.“
Sein kompletter Mangel an Verlegenheit machte Jessica wütender als die Tatsache, ihn mit einer anderen Frau zusammen zu sehen. Jener Frau, die ihr einst erklärt hatte, dass
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