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Morgenlied - Roman

Morgenlied - Roman

Titel: Morgenlied - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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verlassen, dich mitgenommen und wäre aus diesem Ort fortgegangen.« Sie drehte sich ein bisschen um, um auf den Ort zu blicken. In ihren Augen sah er noch etwas - etwas, das heller war als Mitgefühl. »Ich hätte dich und mich schützen sollen. Wir hätten woanders ein schönes Leben geführt. Aber ich kann dich ja jetzt beschützen.«
    »Wie beschützen die Toten die Lebenden?«
    »Wir sehen mehr. Wir wissen mehr.« Sie wandte sich wieder zu ihm und streckte die Hände aus. »Du hast gefragt, warum ich hier bin. Deshalb bin ich hier. Um dich zu beschützen. Um dir zu sagen, geh weg von hier. Verlass diesen Ort. Hier ist nichts als Tod und Elend, Schmerz und Verlust. Wenn du gehst, bleibst du am Leben. Wenn du hierbleibst, wirst du sterben wie ich.«

    »Weißt du, bis eben hast du es noch ganz gut gemacht.« Kalte Wut stieg in ihm auf, aber seine Stimme war beiläufig. »Ich hätte es dir abgekauft, wenn du mehr auf Mami gemacht hättest. Aber du hast es überstürzt.«
    »Ich will nur, dass du in Sicherheit bist.«
    »Du willst mich tot sehen. Und wenn schon nicht tot, dann wenigstens weit weg von hier. Aber ich gehe nirgendwo hin, und du bist nicht meine Mutter. Also zieh das Kleid aus, du Arschloch!«
    »Dafür wird Mommy dir den Hintern versohlen müssen.« Der Dämon machte eine weit ausholende Geste, deren Wucht Gage umwarf. Als er sich wieder aufrappelte, veränderte der Dämon bereits die Gestalt.
    Seine Augen wurden rot und vergossen blutige Tränen. Er heulte vor Lachen. »Böser Junge! Ich werde dich bestrafen. Ich werde dir die Haut in Fetzen prügeln, dein Blut trinken, an deinen Knochen nagen!«
    »Ja, ja, ja.« Betont gleichgültig hakte Gage die Daumen in die Vordertaschen seiner Jeans.
    Das Gesicht seiner Mutter zerfloss zu einer unmenschlichen Fratze. Der Körper schrumpfte, Hände und Füße wurden zu Klauen, und die Gestalt verwandelte sich in eine formlose, schwarze Masse, die die Luft mit dem Gestank des Todes erfüllte.
    Der Wind blies Gage den Gestank ins Gesicht, aber er blieb unerschütterlich stehen. Er hatte keine Waffe und beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. Er ballte die Fäuste und stieß mitten in die schwarze Masse hinein.
    Es brannte entsetzlich. Er riss seine Hand heraus und schlug noch einmal zu. Der Schmerz raubte ihm den
Atem, aber er versuchte es noch ein drittes Mal. Der Dämon schrie. Wut, dachte Gage, als ihn ein Schlag des Dämons zu Boden warf.
    Er stand jetzt über ihm, in der Gestalt des kleinen Jungen, die er so gerne wählte. »Du wirst um den Tod betteln«, sagte er zu Gage. »Noch lange nachdem ich die anderen schon zerrissen habe, wirst du mich anflehen, dich endlich zu töten.«
    Gage wischte sich das Blut vom Mund und lächelte, obwohl ihn eine Welle der Übelkeit überschwemmte. »Um was wetten wir?«
    Der Dämon steckte sich beide Hände in die Brust und riss sie auf. Mit wildem Gelächter verschwand er.
    »Wahnsinnig. Der Typ ist wahnsinnig.« Gage setzte sich, um wieder zu Atem zu kommen. Er musterte seine Hand. Sie war von roten Pusteln und Blasen übersät, aus denen Eiter floss. Er konnte spüren, wie die Wunden schon wieder heilten. Es tat entsetzlich weh. Er hielt sich den Arm und stand auf. Ihm war schwindlig, und der Boden schwankte unter seinen Füßen.
    Er musste sich wieder setzen und lehnte sich an den Grabstein seiner Mutter und seiner Schwester, bis die Übelkeit verging.
    Dann stand er auf, warf einen letzten Blick aufs Grab und ging.
     
    Er hielt am Blumenladen und kaufte einen bunten Frühlingsstrauß. Amy, die Floristin, fragte sich sicher, wer die Glückliche wohl sein mochte, die diese schönen Blumen bekam, und er ließ sie in dem Glauben. Es ging
Amy nichts an, dass er die Blumen einer Mutter bringen wollte.
    Das war eins der Probleme in Kleinstädten. Die Leute kannten einander viel zu gut, jeder wusste über jeden Bescheid.
    In Hollow hatten viele über ihn getuschelt, ab und zu hatte es richtig wehgetan. Aber er hatte eine Familie gehabt. Er hatte Cal und Fox gehabt.
    Seine Mutter war schon lange tot, aber er war nicht mutterlos aufgewachsen. Frannie Hawkins hatte Mutterstelle bei ihm vertreten, und deshalb war seine Geste heute auch lange schon überfällig.
    Er wusste natürlich nicht, ob sie überhaupt zu Hause war. Sie war zwar eigentlich nicht berufstätig, aber Cals Mutter hatte so viele soziale und gesellschaftliche Pflichten, dass sie ständig beschäftigt war.
    Vor dem hübschen, gepflegten Haus, in dem die Hawkins

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