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Morgenlied - Roman

Morgenlied - Roman

Titel: Morgenlied - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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brauchte ihm ja nicht zu gefallen, aber er konnte es schlucken. Es war ihr Schicksal, den Dämon zu zerstören oder bei dem Versuch zu sterben. Der Geist von Ann Hawkins war jetzt schon ein paar Mal erschienen, und ihren kryptischen Bemerkungen hatten sie entnommen, dass es dieses Mal bei der Sieben stattfinden würde.
    Alles oder nichts. Leben oder Tod.
    Da in den meisten seiner Visionen der Tod in verschiedenen unangenehmen Formen vorkam, setzte Gage nicht auf Sieg.
    Wahrscheinlich war er zum Friedhof gefahren, weil er an den Tod gedacht hatte. Als er aus dem Auto stieg, steckte er die Hände in die Taschen. Es war blöd hierherzukommen, dachte er. Zwecklos. Aber trotzdem ging er durch das Gras, an den Grabsteinen und Monumenten vorbei.
    Er hätte Blumen mitbringen sollen, dachte er, schüttelte dann aber den Kopf. Blumen waren auch zwecklos. Was nützten Blumen den Toten?
    Seine Mutter und das Kind, das sie erwartet hatte, waren schon lange tot.
    Jetzt im Mai waren das Gras und die Bäume grün, und die Laubkronen rauschten im Wind. Seine Mutter und seine Schwester, die in ihr gestorben war, hatten einen weißen Grabstein. Obwohl es schon viele Jahre her war, seit er zuletzt hier gewesen war, wusste er ganz genau, wo er sie finden konnte.
    Der Stein war schlicht, klein und abgerundet, und es standen nur Namen und Jahreszahlen darauf.

CATHERINE MARY TURNER 1954-1982 ROSE ELIZABETH TURNER 1982
    Er erinnerte sich kaum noch an sie. Die Zeit wischte die Gesichter einfach aus, Stimmen, Gefühle verblassten. Er hatte nur noch eine verschwommene Erinnerung daran, dass sie seine Hand auf ihren dicken Bauch gelegt hatte, damit er spüren konnte, wie das Baby sich bewegte. Er besaß ein Foto von ihr, deshalb wusste er, dass er seiner Mutter ähnlich sah, in der Haarfarbe, der Form seiner Augen, seines Mundes. Das Baby hatte er nie gesehen, und niemand hatte ihm gesagt, wie es ausgesehen hatte. Aber er erinnerte sich daran, dass er glücklich gewesen war, dass er im Sonnenlicht, das durch ein Fenster fiel, mit Lastwagen gespielt hatte. Immer wenn sein Vater von der Arbeit gekommen war, hatte er ihn hochgehoben, und Gage hatte vor Freude gejauchzt.
    Es hatte tatsächlich eine kurze Zeit in seinem Leben gegeben, als die Hände seines Vaters ihn hochgehoben und nicht niedergeschlagen hatten. Die sonnige Zeit. Dann war seine Mutter gestorben und das Baby mit ihr, und alles war dunkel und kalt geworden.
    Hatte sie ihn je angeschrien, ihn bestraft, war ungeduldig mit ihm gewesen? Bestimmt. Aber daran konnte er sich nicht erinnern, oder vielleicht wollte er es auch nur nicht. Vielleicht idealisierte er sie, aber was schadete das schon? Wenn ein Junge seine Mutter nur so kurz
gehabt hatte, dann durfte er sie sich als erwachsener Mann als perfekt vorstellen.
    »Ich habe keine Blumen mitgebracht«, murmelte er. »Das hätte ich wohl besser gemacht.«
    »Aber du bist gekommen.«
    Er fuhr herum und blickte in Augen von derselben Farbe und Form wie seine. Seine Mutter lächelte ihn an.

2
    Sie ist so jung, war sein erster Gedanke. Jünger, als er mittlerweile war. Sie war von einer ruhigen, stillen Schönheit, einer Art Einfachheit, die ihr die Schönheit sicher bis ins hohe Alter erhalten hätte. Aber sie war noch nicht einmal dreißig geworden.
    Obwohl er ein erwachsener Mann war, tat ihm das Herz weh, so sehr empfand er ihren Verlust.
    »Warum bist du hier?«, fragte er sie. Wieder lächelte sie.
    »Möchtest du es nicht?«
    »Vorher bist du doch auch nie hier gewesen.«
    »Vielleicht hast du nur nie nach mir gesucht.« Sie warf ihre dunklen Haare zurück und holte tief Luft. »Heute ist so ein schöner Tag. Und du siehst so traurig, so wütend aus. Glaubst du nicht, dass es einen besseren Ort gibt, Gage? Dass mit dem Tod etwas Neues anfängt?«

    »Für mich war es damals das Ende meines bisherigen Lebens. Als du starbst, hörte das Bessere auf.«
    »Armer kleiner Junge. Hasst du mich, weil ich dich verlassen habe?«
    »Du hast mich nicht verlassen, du bist gestorben.«
    »Das kommt aufs Gleiche heraus.« In ihren Augen stand Trauer, aber vielleicht war es auch Mitleid. »Ich war nicht da für dich, und ich habe dich mit ihm allein gelassen. Ich habe zugelassen, dass du alleine und hilflos mit einem Mann zurückbliebst, der dich geschlagen und verflucht hat.«
    »Warum hast du ihn überhaupt geheiratet?«
    »Frauen sind schwach, das musst du doch mittlerweile gelernt haben. Wenn ich nicht so schwach gewesen wäre, hätte ich ihn

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