Morgenrötes Krieger
Fluß zu erkennen glaubten. Da standen sie nun im dämmrigen Zwielicht am Rande des Abgrundes und schauten in die Tiefe; der Fluß schien, falls sie sich nicht täuschten, nach Süden zu fließen, während die Schlucht den Bergen folgte, auch wenn es keine Anzeichen für einen Durchbruch in der Felswand über ihnen gab. Die Größe der Schlucht übe r stieg bei weitem alles, was sie bisher gesehen hatten. Sie paßte gut zu den enormen Ausmaßen des Gebirges.
Liszendir blickte mit glänzenden Augen hinunter. „Luft, das ist es, was ich brauche. Wenn ich nur wieder richtig atmen kann … oh ja, ich wollte wohl hinunterg e hen und in Frieden sterben.“ Ihre Stimme war ein einz i ges Krächzen.
Han fügte hinzu. „Du sprichst mir aus der Seele; es würde schon genügen, wenn wir nur hinunterkämen.“ Seine eigene Stimme klang für ihn noch befremdlicher.
Sie machten sich unverzüglich an den Abstieg – noch eine Nacht wollten sie nicht auf dieser schrecklich hohen und kalten Ebene verbringen. Aber trotz der offensich t lich sanften Neigung des oberen Teils war der Abstieg nicht leicht; denn wieder einmal täuschten die Entfe r nungen, und je weiter sie vorankamen, um so steiler wurde der Abhang. In der Dunkelheit, die Sterne über sich, aber das erste Mal ohne den vertrauten Horizont, hielten sie an.
Die zurückgelegte Strecke pro Tag verringerte sich fast auf Null – dennoch bewegten sie sich stetig abwärts. Von Tag zu Tag gewann der östliche Rand der Schlucht an Höhe, die Luft wurde zunehmend dichter und leichter zu atmen, jede Nacht kamen die Schatten um einiges fr ü her. Und noch immer krochen sie abwärts, abwärts, mit kaum sichtbarem Fortschritt. Eines jedoch war jetzt be s ser: Sie hatten stets Wasser, frisches Wasser, das von den Felsen tropfte. Mit Wasser konnten sie ihre Nahrung s konzentrate strecken, doch die Auswirkungen wurden immer deutlicher: Han war zum Skelett abgemagert, während sich bei Liszendir die Unterernährung noch ve r heerender auswirkte; was Han aber am meisten beunr u higte, jetzt, wo er in der dichteren Atmosphäre seine normale Denkfähigkeit zurückgewonnen hatte, war die seit einigen Tagen immer deutlicher werdende Tatsache, daß Liszendir zu phantasieren begann und ausgedehnte Selbstgespräche führte.
Sie aßen den letzten Rest ihres Nahrungskonzentrats. Es blieb noch soviel, daß sie es auf zwei weitere Tage hätten verteilen können – oder sie konnten alles auf ei n mal essen, um dann so weit wie möglich zu kommen. Sie entschieden sich für die zweite Möglichkeit und warfen dann lachend den Beutel weg. Weit davon entfernt, in Traurigkeit zu verfallen, empfanden sie beide eine seit Chalcedon nicht mehr gekannte innere Freude. Nach der Mahlzeit schien auch Liszendir wieder klar bei Bewuß t sein zu sein. Zum Glück, denn sie hatte den ganzen Nachmittag von Schlössern und gierigen Augen gefaselt.
„So, Han, das war also unsere letzte Mahlzeit. Wie weit werden wir wohl kommen?“
„Wenn wir in Form bleiben, gut drei Tage, wenn nicht, höchstens zwei.“
Sie schaute sich um. „Hier also wird alles enden, unser heiteres Intermezzo, von dem niemand etwas weiß. Ich habe keine Furcht. Schau dich um, schau’s dir an!“
Han folgte ihrem Blick: In dem schnell verlöschenden Abendlicht reckten sich über ihnen die Felsenpfeiler der Bergschlucht in die Höhe, eine gewaltige Masse – jede ihr eigenes Territorium behauptend. Die Bergkette war jetzt hinter dem westlichen Rand der Schlucht außer Sicht. Han war irgendwie dankbar dafür, denn der A n blick dieser nackten, mächtigen Gesteinswelt hatte ihn entmutigt und gedemütigt. Kein Mensch, nicht ein einz i ges denkendes Lebewesen würde je diese Pässe beschre i ten, diese Gipfel erklimmen. Dort oben gab es keine Luft zum Atmen. Die Gipfel türmten sich meilenweit über der Ebene, höher als alle Berge, die Han je mit eigenen A u gen oder auf Bildern gesehen hatte.
Liszendir sprach erneut, ohne seine Antwort abzuwa r ten: „Du kannst es nicht sehen – ich dagegen kann es: ein tiefdunkles Violett in den Schatten, nefalo perhos ’em spanhrun, in den Felsen, im Fluß weiter unten. Dies ist ein Ort der Erdriesen, der Heroen, reison, eine kalte, u n barmherzige und grausame Schönheit. Ich bin weit g e reist, um dies zu erleben.“ Sie schien von dem Schauspiel wie hypnotisiert. Fast wie ein Kind, schoß es ihm durch den Kopf. Den Ausdruck eines Hellsehers im Gesicht, sagte sie: „Wie herrlich. Schau es dir an.“
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