Morland 03 - Das Vermächtnis der Magier
Schultern am Küchentisch meiner schäbigen Behausung und schreibe. Auf Papier. Mit einem Füller, den mir meine Mutter – Gott hab sie selig– schenkte, als ich dem Komsomol beitrat.
Ich entdecke gerade, dass das Schreiben etwas überaus Sinnliches sein kann, wenn man sich nur die Zeit dafür nimmt und dabei zu Mitteln greift, die schon seit einem Jahrzehnt aus der Mode gekommen sind. Es verlangsamt. Formulieren und Schreiben vollziehen sich in derselben Geschwindigkeit, sodass ein ungefilterter Gedankenfluss Gestalt annimmt.
Als ich zwanzig Jahre alt war, beschloss der oberste Sowjet, in der nördlichen Oblast Moskau in der Nähe von Dubna eine Forschungsanlage zu bauen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Es hatte noch ein anderer Standort zur Debatte gestanden, doch heute bin ich froh, dass die Wahl nicht auf Akademgorodok in der Nähe von Nowosibirsk gefallen ist, sonst würde ich mir jetzt noch mehr den Hintern abfrieren.
Diese Forschungsanlage war der Grund dafür, dass ich Physiker geworden bin – anstatt, wie meine Mutter es wünschte, in die Partei einzutreten. Ich war und bin der Meinung, dass sich Politik und Naturwissenschaften nicht miteinander vertragen. Die Partei ist wie eine Kirche, die einen Wahrheitsanspruch in Glaubensfragen stellt. Nun gut, Trotzki war 1959 friedlich entschlafen und die von ihm angestrebte Weltrevolution hatte nicht stattgefunden. Dennoch hatte sich die Partei nach zwei Jahrzehnten der Unruhe neu erfunden und verfolgte seit den Achtzigern eine Politik, die genau genommen sturzkapitalistisch war, doch hundertzwanzig Millionen Sowjetmenschen so viel Wohlstand brachte, dass keiner den Widerspruch zwischen offiziellem Weltbild und Realität hinterfragte. Ich auch nicht.
Mich interessieren andere Dinge. Ich will wissen, woraus die Welt gemacht ist, in der wir leben. Deswegen belegte ich einige Kurse bei Andrej Dimitrijewitsch Sacharow, bevor er 1994 bei einem Autounfall starb. Wahrscheinlich war ich der Einzige meines Jahrgangs, der ein signiertes Foto von Marie Sklodowska und nicht von Louise Ciccone über seinem Schreibtisch hängen hatte. Mein Traum war es, zum Team des Hadron-Speicherring-Projekts zu gehören. Im Sommer letzten Jahres ist dieser Traum in Erfüllung gegangen, nächsten Monat geht die Anlage in Betrieb. Und ich bin dabei. Wir werden Geschichte schreiben, so viel ist sicher. Das glauben alle, die gestern auf der Feier waren. Und das meinte auch das entzückendste Geschöpf, dem ich jemals begegnet bin. Sie ist der Grund, weshalb ich dieses Tagebuch führe.
Es gibt solche Momente, da fällt alles zusammen, und der rote Faden, an dem sich das Leben entlangbewegt, wird sichtbar. Die Silvesterfeier 2002 war solch ein Moment. Und ich versuche, ihn mit allen Mitteln festzuhalten.
Paul Allendorf, Leiter des Speicherring-Projekts, hatte ein teures Hotel am Prospekt Akademika Sacharova gebucht. Ich bin sicher, dass er es getan hat, weil er die Adresse so passend fand. Es entspräche seinem Stil.
Jeder der geladenen Gäste hatte ein eigenes Zimmer und ich muss zugeben, dass ich aufgeregt war. Ich war ein Landei, streng im Sinne der Lehre Trotzkis erzogen. Luxus war mir fremd, weil er als bürgerlich galt. Tatsächlich hatte ich ein schlechtes Gewissen – für ungefähr fünf Minuten. Dann bestellte ich mir an der Hotelbar einen Starka.
»Für mich bitte einen Mint Julep«, sagte eine Stimme.
Neben mir stand ein Mädchen in einem dunklen Abendkleid. Der Begriff »Frau« kam mir im ersten Moment nicht in den Sinn, dazu war sie zu klein und zierlich. Sie trug eine Pagenfrisur, wie sie in den Zwanzigerjahren Mode war. Ihre Haut schimmerte ungewöhnlich blass, sodass ich zunächst glaubte, sie färbte sich die Haare. Später sollte ich mich vom Gegenteil überzeugen.
»Ein Mint Julep?«, fragte ich. »Was bitte schön ist das?«
»Ein Cocktail«, antwortete sie, ohne mir in die Augen zu schauen. »Wird gemixt aus Bourbon, gutem Bourbon-Whiskey, Zuckersirup und Minze.«
»Oh«, sagte ich. »Ein Getränk des Klassenfeindes.«
Jetzt erst sah sie mich an. »Und was haben Sie?«
»Einen Starka.«
»Einen Wodka?« Sie schnaubte verächtlich. »Dazu auch noch einen sehr unpatriotischen. Er kommt aus Litauen.«
»Also aus der Union«, erklärte ich und hob mein Glas. »Aber wenn es Sie beruhigt, kann ich den Wir t …«
»Den Barkeeper«, verbesserte sie mich.
» … den Barkeeper fragen, ob er ein rotes Fähnchen hat, das er in mein Glas stecken
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