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Morland 03 - Das Vermächtnis der Magier

Titel: Morland 03 - Das Vermächtnis der Magier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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Wohnung gefunden hätte.
    Allendorf stieg winkend von der Bühne herunter und die Band begann, eine russifizierte Version von »Johnny B. Goode« zu spielen. Gleichzeitig gingen die Türen auf und die Amuse-Gueule wurden serviert. Kellnerinnen eilten von Tisch zu Tisch, schenkten Wein nach und fragten, ob die Gäste noch weitere Wünsche hätten.
    »Was hat es eigentlich mit diesem seltsamen Cocktail auf sich?«, fragte ich Nora zwischen zwei Gabeln Ziegenkäseparfait. »Diesem Mint Julep?«
    »Haben Sie ihn probiert?«
    »Ja.«
    »Und?«
    »Er ist speziell«, gab ich zu. »Nicht ganz mein Geschmack, aber ich denke, man könnte sich daran gewöhnen.«
    »Eigentlich ist er etwas für die blaue Stunde«, sagte Nora. »Das ist die kurze Zeit zwischen Sonnenuntergang und Dunkelheit. So ein Mint Julep schmeckt nicht, wenn einem der richtige Bourbon fehlt. Der klassische Mint Julep wird mit Woodford Reserve Bourbon gemischt. So trinkt man ihn beim Kentucky Derby und beim Breeder’s Cup. Ich bevorzuge jedoch Maker’s Mark Red Seal.«
    Sie schaute mir fragend in die Augen, weil ich ihren Ausführungen mit einem Lächeln begegnete. »Sie haben überhaupt nicht verstanden, wovon ich rede, nicht wahr?«
    Ich schüttelte bedauernd den Kopf.
    »Das wird sich ändern«, entgegnete sie bestimmt, trank einen Schluck Weißwein und widmete sich wieder ihrem Amuse-Gueule. »Haben Sie schon einmal ein Hotel wie dieses besucht?«
    »Das kann ich mir nicht leisten«, sagte ich.
    Nora hielt mit dem Essen inne und schaute mich mit aufrichtigem Bedauern an. »Das ist schade!«
    »Ich finde es ein wenig dekadent hier.«
    »Sagen Sie bloß, Sie genießen den Abend nicht!«, rief Nora mit gespieltem Entsetzen.
    »Ich fühle mich in der Tat ein wenig unwohl.«
    »Weil er fürchtet, sich wie ein bürgerlicher Blutsauger zu benehmen«, meldete sich Boris mit vollem Mund. »Andre, wir nehmen hier niemandem etwas weg.« Er zeigte mit seinem benutzten Messer auf das Servicepersonal. »Ohne uns würden die hier alle keine Arbeit haben.«
    »Ein Hotel wie dieses ist ein himmlischer Ort«, sagte Nora. »Wo sonst kommen Menschen zusammen, die sich normalerweise nie begegnen würden? Es gibt gutes Essen und guten Wein. Man amüsiert sich und denkt nicht an morgen.«
    »Aber man zahlt einen Preis dafür«, sagte ich. »Ich möchte nicht wissen, wie viel mein Zimmer kostet.«
    Nora stützte das Kinn auf den Handrücken, spielte mit der Gabel herum und schaute mich mit ihren großen, dunklen Augen an. »Andre Jesion, Sie gefallen mir. Sie sind ehrlich und Sie sind bodenständig. Ganz im Gegensatz zu Boris, diesem Windbeutel.«
    »Deswegen haben wir uns ja auch getrennt«, sagte Boris. »Aber ihr beide, ihr könntet gut zueinander passen.« Er stutzte, als er mein errötendes Gesicht sah. »Nein, ist es zu glauben? Kaum hat er dich gesehen, schon hat er sich in dich verliebt, Nora.«
    Ich stammelte ein paar Worte, die ich selbst nicht verstand. Nora legte den Kopf schief und schenkte mir ein Lächeln, das mich beinahe umbrachte. »Aber passen Sie auf, mein lieber Andre. Sobald sie sich mit Ihnen langweilt, wird sie Ihnen das Herz herausreißen und darauf herumtrampeln. Das tun Frauen immer.«
    Obwohl Tess nicht erfassen konnte, was an diesem Abend vor über sechstausend Jahren gefeiert worden war, elektrisierte sie dieser erste Eintrag. Noras Beschreibung deckte sich bis in die kleinste Einzelheit mit dem Bild, das sich Tess von der Frau im Grand Hotel hatte machen können. Der kleine, fast kindhafte Wuchs, der schwarze Pagenkopf, die weiße, beinahe durchscheinende Haut und der resolute Charakter, dessen wirkungsvollste Waffe ein messerscharfer Humor war.
    Zuerst hatte sie am Wahrheitsgehalt von Andres Behauptungen gezweifelt, aber nun war Tess sicher, dass er die Wahrheit sagte. Zwei Gefühle kämpften in ihrer Brust miteinander: Einerseits war sie gespannt, welche Geheimnisse das Tagebuch noch enthüllen mochte.
    Andererseits hatte Tess Angst vor der Wahrheit. Was war, wenn Andre Recht hatte? Was war, wenn er und Nora das Ende der Welt herbeigeführt hatten?
    ***
    Lennart hatte schon vermutet, dass man sie in dieser kleinen Zelle mehrere Tage festhalten würde, doch er sollte sich täuschen. Noch in der Nacht wurden sie abgeholt. Sechs Soldaten zerrten die drei Gefangenen von ihrem Lager und führten sie durch Korridore, an deren stockfleckigen Wänden der Putz bereits abblätterte, zu einem dunklen, weitläufigen Saal, der einmal der Speisesaal des

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