Morphium
erstaunt:
»Ich dachte, es war umgekehrt?«
»Dem Anschein nach, ja. Sie gab eine sehr gute Darstellung von jemand, der etwas weiß und es nicht sagen will! Aber als ich das Ganze noch mal sorgfältig durchging, wurde mir klar, dass jedes Wort, das sie darüber geäußert hatte, mit dem gerade entgegengesetzten Ziel gesprochen worden war. Meine Unterredung mit Schwester O’Brien bestätigte diese Annahme. Hopkins hatte sie geschickt benützt, ohne dass Schwester O’Brien es merkte. Es war also klar, dass Schwester Hopkins eine Partie für sich spielte. Ich verglich die beiden Lügen miteinander, ihre und die von Roderick Welman. Gab es für eine von ihnen eine unschuldige Erklärung?
In Rodericks Fall antwortete ich sofort: Ja. Roderick Welman ist ein sehr sensibler Mensch. Zuzugeben, dass er nicht imstande war, seinen Plan, im Ausland zu bleiben, durchzuhalten, und sich genötigt fühlte zurückzuschleichen, um in der Nähe des Mädchens zu sein, das nichts von ihm wissen wollte, hätte seinen Stolz schwer verletzt. Da nicht die Rede davon war, dass er in der Nähe des Tatorts war, er auch nichts über die Sache wusste, ging er den Weg des geringsten Widerstandes und vermied Unannehmlichkeiten (ein höchst charakteristischer Zug!), indem er jenen eiligen Besuch in England ignorierte und einfach angab, am 1. August zurückgekehrt zu sein, als ihn die Nachricht von dem Mord erreichte.
Was nun Schwester Hopkins betrifft – gab es da auch eine unschuldige Erklärung ihrer Lüge? Je mehr ich darüber nachdachte, desto merkwürdiger erschien sie mir. Warum konnte Schwester Hopkins es für nötig finden zu lügen, weil sie eine Verletzung an ihrem Handgelenk hatte? Was bedeutete diese Handverletzung?
Ich begann mir ein paar Fragen zu stellen:
Wem gehörte das Morphium, das abhanden gekommen war? Schwester Hopkins.
Wer konnte jenes Morphium der alten Mrs Welman eingeben? Schwester Hopkins.
Ja, aber warum die Aufmerksamkeit auf dessen Verschwinden lenken? Darauf gab es nur eine Antwort für den Fall, dass Schwester Hopkins schuldig war: Weil der zweite Mord, der Mord an Mary Gerrard, bereits geplant und ein Sündenbock gewählt war, aber es musste gezeigt werden, dass der Sündenbock Gelegenheit hatte, an das Morphium zu gelangen.
Gewisse andere Dinge passten dazu. Der anonyme Brief, den Elinor erhielt. Der sollte Unfrieden zwischen Elinor und Mary stiften. Es war zweifellos beabsichtigt, dass Elinor hinausfahren und sich Marys Einfluss auf Mrs Welman entgegenstellen sollte. Die Tatsache, dass Roderick Welman sich heftig in Mary verliebte, war natürlich etwas ganz Unvorhergesehenes – aber etwas, das Schwester Hopkins sogleich zu würdigen wusste. Damit war das perfekte Motiv für den Sündenbock Elinor geliefert!
Wo aber war das Motiv für die beiden Verbrechen? Welchen Grund konnte Schwester Hopkins haben, Mary Gerrard aus dem Weg zu räumen?
Ich begann, Licht zu sehen – oh, vorläufig nur ein ganz schwaches. Schwester Hopkins hatte sehr viel Einfluss auf Mary und benützte ihn dazu, das Mädchen zu bewegen, ein Testament zu machen. Aber das Testament brachte Schwester Hopkins nichts. Die Erbin war eine Tante von Mary, die in Neuseeland lebte. Und da erinnerte ich mich an eine zufällige Bemerkung, die jemand im Dorf zu mir gemacht hatte: Jene Tante war Krankenschwester.
Das Licht war jetzt nicht mehr ganz so schwach. Das Skelett – der Entwurf des Verbrechens – begann zum Vorschein zu kommen. Der nächste Schritt war leicht. Ich besuchte Schwester Hopkins noch einmal. Wir spielten beide sehr hübsch Komödie. Am Ende ließ sie sich dazu überreden, mir das zu erzählen, worauf sie schon die ganze Zeit hingezielt hatte! Nur erzählte sie es vielleicht ein wenig früher, als sie eigentlich beabsichtigt hatte! Aber die Gelegenheit ist so gut, dass sie nicht widerstehen kann. Und schließlich muss ja die Wahrheit einmal bekannt werden. Also zeigt sie mit gut gespieltem Widerstreben den Brief her. Und dann, mein Freund, ist es nicht länger Vermutung. Ich weiß! Der Brief verrät sie.«
Peter Lord runzelte die Stirn.
»Wieso?«
»Mein Lieber! Die Aufschrift auf jenem Brief lautete wie folgt: Tür Mary, ihr nach meinem Tod zu schickem. Aber der Inhalt macht ganz klar, dass nicht Mary Ge r rard die Wahrheit wissen sollte. Auch das Wort ›schicken‹ statt geben auf dem Umschlag war aufschlussreich. Es war nicht Mary Gerrard, an die der Brief gerichtet war, sondern an eine andere Mary. Ihrer Schwester,
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