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Morphogenesis

Morphogenesis

Titel: Morphogenesis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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umwoben, lediglich meine Füße schauten aus dem Kokon hervor. Der Mann mit der Schere war alt, relativ hochgewachsen und schmächtig. Sein Haupthaar und sein Vollbart waren schlohweiß, seine Haut ungesund bleich und faltig. Unter seinen breiten Augenwülsten funkelten hellwache Augen, deren Blick flink umherhuschte. Von der Stirn bis zum rechten Wangenknochen zog sich eine feine Narbe über sein Gesicht. Gekleidet war er in einen dunklen Kaftan und einen sandfarbenen, robenähnlichen Mantel.
    »Verzeiht«, ergriff er das Wort, »aber Demuarsell ist bisweilen recht ungestüm gegenüber Eindringlingen. Erlaubt mir, mich vorzustellen: Mein Name ist Elijah.«
    »Was ist passiert?«, krächzte ich.
    »Oh, Ihr habt Euch für ein paar Stunden innerlich verflüssigt, mehr nicht. Aber keine Sorge, Demuarsell hat nicht von Euch genascht …«
    »Was?«
    »Inzwischen müsste alles wieder beim Alten sein, wie Eure Stimme beweist.« Er drückte mit drei Fingern gegen meine Stirn, dann auf meine Brust, als wollte er meine Konsistenz prüfen. »Ja, ich glaube, wir können Euch auspacken, ohne dass Ihr wie ein Polyp vom Tisch rutscht.«
    Während Elijah und Byron mich aus dem Kokon befreiten, machte ich Bekanntschaft mit der Kreatur, der ich diese unwürdige Situation zu verdanken hatte: Demuarsell, ein Spinnenwesen mit einem pechschwarzen, sackartigen Körper, so groß wie ein Kalb. Sie kam auf acht langen Beinen zur Tür hereingekrochen und übergab dem Rabbiner ein Kleidungsbündel, das sie in ihren Fangzangen trug. Nachdem sie ihrem Herrn diesen Dienst erwiesen hatte, richtete sie sich vor mir auf, sodass ihre Giftklauen sich in Höhe meiner Augen befanden, und zischte: »Ich behalte dich im Auge, mein Süßer. Jammerschade, dass wir hier nicht unter uns sind …«
    Dann ließ sie sich wieder auf alle acht Beine nieder, machte kehrt und kroch aus dem Raum.
    Beklommen sah ich der Spinnenkreatur nach, dann sondierte ich meine Umgebung. Ich befand mich in einem Raum mit den Ausmaßen einer kleinen Halle, der offensichtlich als Arbeitszimmer, Laboratorium, Bibliothek und Kartenraum zugleich diente. Drei Wände wurden von meterhohen Bücherregalen eingenommen, die vierte von einer Batterie aus Kartenspindeln. Der Bereich, den Elijah als Laboratorium nutzte, schien seit langem nicht mehr in voller Kapazität genutzt worden zu sein. In einem großen Glaskolben brodelte eine dunkelbraune Flüssigkeit und schwängerte den Raum mit einem Geruch, der an verbrannten Lebertran erinnerte.
    Auf den Tischen, die frei von Laborutensilien waren, stapelten sich Bücher und Karten. Ich selbst saß auf einem Holztisch, der offenbar hastig von einem Haufen Papiere freigeräumt worden war. Neben mir türmten sich Pergamentbögen voller Skizzen und Schaubilder, die von Anmerkungen, Korrekturen und Formeln umrahmt waren. Ich erkannte Kreisdiagramme, umgeben von Berechnungen zur Raumtransformation, und Zeichnungen, die anscheinend Hohlweltmodelle abbildeten. Als Elijah meinen analysierenden Blick bemerkte, verbarg er die Aufzeichnungen rasch unter nichtssagenden Landkarten.
    Auf einem der Nebentische entdeckte ich neben einem altertümlichen Holzmodell des Sonnensystems (das Uranus, Neptun und Pluto vermissen ließ) zum ersten Mal seit meiner Ankunft in dieser Stadt eine Uhr – oder zumindest einen Apparat, den ich für eine solche hielt.
    »In der Tat, dies ist ein Chronometer«, erklärte Elijah stolz, nachdem ich endlich vollständig aus dem Gespinst befreit war. »Im Laufe der vergangenen Jahrhunderte konnte ich ihn äußerst exakt justieren, sodass er die Zeit recht genau anzeigt. Plus minus ein Viertel Quent, würde ich sagen.«
    Ich schlüpfte in die Kleidung, die Demuarsell gebracht hatte: Ein schlichtes, löchriges Hemd, eine dünne Hose, die man um die Hüfte zusammenschnüren musste, und eine einfache, knopflose Jacke. Sämtliche Kleidungsstücke waren von dunkler, blaugrauer Farbe und wirkten an mir wie eine Sträflingstracht.
    »Heißt das, diese Uhr misst die Zeit dieser Welt?«, staunte ich.
    »Was würde mir die irdische Zeit hier nutzen?« Der Rabbiner schüttelte den Kopf. »Natürlich misst er Stadtzeit. Oder besser« – er grinste freudlos – »Höllenzeit.«
    Laut seinem Chronometer besaß ein Stadttag siebenundneunzig Quenten, eine Nacht sechsundzwanzig Quenten. Wobei ein Quent eine Zeitspanne von ziemlich genau fünfeinhalb Stunden umfasste. Wie er zu diesem genauen Vergleichswert gekommen war, verriet Elijah nicht. Ein

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