Morphogenesis
Hoffnung verwandelte sich in eine namenlose Angst, die mich daran hinderte, auch nur einen einzigen Ton von mir zu geben.
Ich war jedoch nicht allein in der Küche, wenn ich auch nicht sagen kann, wer oder was sich mit mir im Raum befand. Es war einfach nur da und rührte sich nicht von der Stelle. Für die Begriffe eines Sechsjährigen war der Schatten sehr groß, zumindest größer als mein Vater. Von ihm ging eine Art Vibrieren aus und eine eigenartige Wärme und Spannung, die ich sonst nur spürte, wenn ich über die Mattscheibe des eingeschalteten Fernsehers strich oder meine Hand an das Glas eines Aquariums legte. Angstgebeutelt krabbelte ich durch den dunklen Flur in mein Zimmer, schloss die Tür und versteckte mich unter der Bettdecke.
Als ich nach einer endlosen Stunde vorsichtig meinen Kopf hervorstreckte, befand sich der Schatten in meinem Zimmer. Er stand neben der Tür und regte sich nicht. Ich machte mir vor Schreck fast in die Hose, als ich ihn sah. Leider reichte mein Mut nicht aus, ihn länger als ein paar Sekunden anzusehen. Als ich die Bettdecke ein zweites Mal anhob, blickte ich ihm direkt ins Gesicht, denn er kniete neben meinem Bett.
Diesmal pisste ich mir wirklich die Hosen voll. Erst meine Eltern, die gegen zwei Uhr nachts gemeinsam nach Hause kamen, brachten es fertig, mich zu beruhigen. Inzwischen brannten – außer in meinem Zimmer – auch wieder alle Lichter in der Wohnung, was meinen Vater in Bezug auf die Stromrechnung in helle Freude versetzte. Natürlich glaubten sie meine Geschichte nicht. Warum auch, sie klang wie die Phantasieausgeburt eines allein gelassenen Kindes. Wie ich ein paar Tage später erfuhr, hatte es außer in unserem Haus nirgendwo in der Straße einen Stromausfall gegeben.
Seit jener Nacht fühlte ich mich in unserer Wohnung ständig umlauert und beobachtet. Obwohl dieses ominöse Etwas anfangs nie in Aktion oder Erscheinung trat, war es doch ständig um mich herum. Nach einigen Wochen hatte ich mich daran gewöhnt und bewegte mich wieder ein wenig entspannter durchs Haus. Selbst auf den düsteren, staubigen Dachboden wagte ich mich wieder hinauf; allerdings nur bei Sonnenschein, wenn das goldgelbe Licht durch zwei Glasziegel fiel, die ins Dach eingelassen waren. Für eine gewisse Zeit hatte ich diesen Raum gemieden, da ich überzeugt war, er sei das Refugium meines Besuchers. Aber die Sonne scheint sehr selten im schottischen Alexandria.
Dann jedoch begann die Sache mit den Spiegeln, oder besser gesagt: mit allen Dingen im Haus, die mein Spiegelbild zurückwarfen: Glasvitrinen, Bilder, Fenster. Ich bekam eine wahnsinnige Angst vor meinen Spiegelbildern, die mich ansahen wie etwas, das sie demnächst verspeisen wollten. Hatte ich in ihnen früher die Vertrautheit meines eigenen Abbildes wiedergefunden, so starrte mich nun etwas Fremdes an, das zwar meine Gesichtszüge trug, aber nichts mit mir gemein hatte: Giza. Blickte ich der Reflexion zu lange in die Augen, so verschwamm die gesamte Umgebung um mich herum, bis der Raum nur noch aus mir und dem eindringlichen Blick meines Gegenübers bestand. Ich sah Grimassen und verzerrte, unwirkliche Dinge, die mir unglaubliche Furcht einflößten, weil mein kindlicher Verstand sie nicht begriff. Ausgeburten, die in ihren extremen Auswüchsen nichts Menschliches mehr an sich hatten. Oft fand mich meine Mutter heulend vor Spiegeln und Glasvitrinen, den Blick unentwegt in eine Ferne gerichtet, die jenseits der Zimmer lag.
Nachts träumte ich von riesigen Mahlströmen, in denen Schrottteile, Leichen, Blumen und Feuer kreisten und in stetigen Spiralen mit mir in die Tiefe gezogen wurden. Ich schwamm in Meeren, von deren Horizonten winkende und singende Leichen auf mich zutrieben, bis mich ihre im Wasser auf und ab hüpfenden Leiber völlig umschlossen und in die Tiefe drückten. Meine Eltern schüttelten mich minutenlang, um mich zu beruhigen, denn ich schrie im Schlaf, derweil ich im Bett saß und das Feuer und die Körper mich in die brodelnden, gurgelnden Schlünde der Mahlströme hinabgeleiteten. Die Sprache, die ich dabei benutzte, ängstigte meine Mutter. Es war, wie Tonbandaufnahmen belegten, eine Sprache, die dem Koptischen ähnelte: altes Ägyptisch. Wenn die reale Welt langsam wieder die Oberhand gewann und die Albträume verdrängte, fuhr ich mit zitternden Händen über die Bettdecke und murmelte: ›Es ist wieder so ruhig und glatt, das Meer…‹ Meine Mutter sah mich daraufhin nur verständnislos an und
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