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Morphogenesis

Morphogenesis

Titel: Morphogenesis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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wachte über mich, bis ich wieder eingeschlafen war. Nacht für Nacht kamen die Träume, und tagsüber schien mich mein Spiegelbild höhnisch anzugrinsen, als wollte es fragen: ›Gut geschlafen, mein Freund?‹
    Bald vermochte ich nicht mehr zu unterscheiden, was Wahrheit war und was Illusion. Ab einem gewissen Zeitpunkt begann ich, die Welt mit Gizas Augen zu sehen, während sein fremdes Bewusstsein in mir wuchs und mich mehr und mehr erfüllte. Er tat dies behutsam, aber mit spielerischer Sicherheit, ein geduldiger Weber, der ein Gedankennetz flocht.
    Irgendwann kam der Tag, an dem dieses für mich unbegreifliche Etwas die Herrschaft übernahm. Es war so voll wundersamen Denkens und Fühlens, und seine Erinnerungen waren so fremdartig und dunkel, dass es einer Reise voll grandioser Schönheit und namenlosem Schrecken gleichkam, sie zu ergründen. Mein ursprüngliches Ego existierte zwar weiterhin, spielte ab diesem Tag aber nur noch eine untergeordnete Rolle. Es wurde von Giza geduldet, diente dabei aber einzig und allein dem Bestehen unter Menschen.
    Aus wild gemischten Farben begann ich abstruse Bilder zu komponieren, Hieroglyphen aus Wasserfarbenklecksereien, mit denen ich meine Zimmerwände tapezierte. Ich entsinne mich des Tages, an dem ich meine Mutter anschrie, dass ich wünschte, sie sei tot, weil der Tod etwas so Wundervolles sei; und meinen Vater, er sei ein Arschloch, ihn solle der Teufel holen. Meine Mutter verpasste mir in ihrer ersten entsetzten Empörung eine schallende Ohrfeige, während mein Vater mich nur ungläubig anstarrte und das Zimmer verließ. Doch aus irgendeinem Grund ahnte ich bereits damals, dass meine Mutter wusste, was mit mir geschah.
    Da mein Gemütszustand sich nicht besserte, steckten meine Eltern mich einige Monate nach meinem achten Geburtstag unter dem Vorwand chronischer Bronchitis in ein Sanatorium, mit der Hoffnung, ich würde mich erholen und zu meinem alten Wesen zurückfinden, wenn ich nur die Umgebung wechselte. Ein Umgebungswechsel zur Genesung eines Umgebungswechsel-Traumas, was für ein Blödsinn! Es wurde ein Horrortrip. Sechs Wochen lang war ich mit einer Gruppe von Leidensgenossen einer Horde von Ärzten und Betreuern ausgeliefert, die ihre Schützlinge behandelten, als gäbe es für jeden eine Gebrauchsanweisung. Während des ›Genesungsaufenthaltes‹ hatte man mindestens einmal krank zu sein, ob man wollte oder nicht. Wir waren zwanzig Kinder, und ich glaube, wir wurden alle in alphabetischer Reihenfolge unserer Nachnamen krank. Jeder Toilettengang gestaltete sich zu einem maschinellen Ritual, bei dem wir in einer Reihe anzustehen hatten. Fürs Pinkeln hatten wir eine Minute Zeit, und für einen Stuhlgang immerhin fünf. Das Essen war schlecht, die Unterkünfte voll Getier, die Betten stanken, und es herrschte ein nächtliches Redeverbot. Die Wände waren übersät mit Ikonen und Kruzifixen, und ständig hatte man zu beten oder wurde mit Beruhigungsmitteln gefüttert, die dem Essen beigemischt waren. Nach drei Wochen fühlte ich mich wie in einem Sammellager für Besessene, die man aus dem ganzen Land für einen Massenexorzismus zusammengetrieben hatte.
    Zum Abschied, der keinem von uns besonders schwer fiel, erhielt jeder ein Buch aus einer Überraschungskiste. Sie besaß an ihrer Oberseite ein Loch, durch das wir den Arm hineinstecken konnten, und wir mussten die Werke blind herausziehen. Ich war der dritte in der Reihe, griff in die Öffnung und ließ meine Fingerspitzen eine Weile über die Bücher wandern. Als ich mich schließlich entschieden hatte, fischte ich einen Schmöker mit einem knallroten Umschlag heraus. Er trug den Namen Das Geheimnis der verborgenen Kammer.
    Nach meiner Heimkehr las ich ein paar Seiten; Ägypten, Pharaonen, Mumien, Pyramiden, Hieroglyphen, Zaubereien, Götter mit Tierköpfen … Ich war zu jung und verstand es nicht. Viel lieber widmete ich mich der Natur, unternahm lange und intensive Wanderungen durchs Hügelland und entlang des Seeufers. Ich studierte alles was kreuchte und fleuchte, sammelte Mineralien und Fossilien, kartographierte Quellen, Grotten und Stollen wie ein außerirdischer Späher, der das Terrain für eine bevorstehende Invasion auskundschaftete. Das Geheimnis der verborgenen Kammer vergrub ich in irgendeiner Schublade und vergaß es.
    Während der kommenden Jahre gewöhnte ich mich an meine Träume, wenn auch manche von ihnen eine häufige Angst vor dem Wiedereinschlafen mit sich brachten. Dennoch starben

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