Morphogenesis
Ghafir oder Shuhadaa Fernsehantennen und Satellitenschüsseln auf, skurril anmutende Zeichen eines bescheidenen Komforts.
Nur langsam gewöhnte man sich an die Armut, und dann sah man – in der dritten Phase – die Schönheit der Stadt wieder, stand staunend vor wunderbaren, alten Gebäuden, durchstreifte luxuriöse Stadtviertel wie Zamalek oder Heliopolis; erlebte, wie die Dunkelheit das Elend verschleierte und die Lichter die Moscheen und den Kahira-Turm auf der Gezirah-Insel verzauberten. Nach einer Woche Aufenthalt gab es für den europäischen Besucher nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder erlitt er einen Nervenzusammenbruch, oder er fühlte sich plötzlich sehr wohl. Ich gehörte zur letzteren Kategorie …
Al-Kahira, die Siegreiche, so nannten die Einheimischen ihre Stadt. Man musste sie einfach lieben. Doch es war eine traurige Liebe, denn die Stadt war eine vernachlässigte Schönheit.
Meine Liebe zu Kairo rührte tiefer, denn ich kam hier zur Welt. Mein Vater war gebürtiger Schotte, den es in seinem Leben als Monteur von Glasgow über Manchester, Rotterdam, Marseille und Tunis ein knappes Jahr vor dem Jom-Kippur-Krieg letztlich nach Kairo verschlagen hatte. Hier hatte er meine Mutter kennen gelernt, eine ägyptische Lehrerin – und viel zu kurz darauf, am 22. Februar 1969, wurde ich geboren.
Als ich noch ein Kind war, hatte meine Mutter mich Giza genannt. Es bedeutete Grenze oder Markstein. Wahrscheinlich, weil ich für meinen Vater so etwas wie den Scheideweg markiert hatte. Meine nahende Geburt hatte ihn vor die Wahl gestellt, entweder meine Mutter zu heiraten und eine Familie zu gründen – oder auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden, um das Nomadenleben auf den Großbaustellen der Welt wieder aufzunehmen.
Dass Giza im Laufe der Zeit realer wurde, als allen lieb war, hatte seine Ursache in einer ›latenten schizoiden Veranlagung‹, wie die Ärzte es damals nannten. Einer Psychose, die entstand, nachdem ich aus meiner vertrauten Umgebung herausgerissen und in einen fremden Sprach- und Kulturkreis verschleppt worden war. Die Ärzte bezeichneten es als seelische Folge eines intensiven Verlusterlebnisses, verursacht durch den Stress der Flucht, die lange Reise und die völlige Ohnmacht gegenüber der ungewollten Situation.
Die Geschichte von Giza begann an einem Herbsttag des Jahres 1975. Wir wohnten seit zwei Jahren in Alexandria, einem im Norden gelegenen Vorort von Glasgow, wohin wir ausgewandert- oder besser gesagt: Hals über Kopf geflüchtet waren, nachdem der Jom-Kippur-Krieg sich zu Ungunsten Ägyptens entwickelt hatte. Als israelische Truppen nur noch einhundert Kilometer vor Kairo standen, hatten die Behörden allen Ausländern geraten, zu ihrer eigenen Sicherheit das Land zu verlassen, worauf mein paranoider Vater für meine Mutter und mich Visa beantragt hatte und mit uns in ein britisches Flugzeug gestiegen war. Damals war ich noch nicht reif genug gewesen, um die Hintergründe zu verstehen. Ich hatte – ganz Kind – alles auf mich bezogen und von meiner kleinen Warte aus gesehen. Mir war es vorgekommen, als hätten meine Eltern mich meinetwegen an den düstersten Ort der Welt verschleppt. Ich hatte nicht begriffen, welche Schuld ich auf mich geladen haben sollte, um eine derartige Strafe zu verdienen. Krieg? Welcher Krieg? In meinem bescheidenen Kinderuniversum hatte etwas derart Komplexes noch nicht existiert. Die neue Welt im Norden erschien mir kalt und feucht, die Sprache der Bewohner rau und unverständlich. Alles stieß mich ab; das Klima, die Landschaft, die Stadt, die Menschen, das Essen …
Ironie des Schicksals, dass es uns ausgerechnet in ein armseliges Pendant der geschichtsträchtigen ägyptischen Hafenstadt verschlagen hatte. Dort, am Südzipfel des Loch Lomond, lebten die Eltern meines Vaters. Sie besaßen ein schlichtes, aber gemütliches Haus, dessen oberes Stockwerk sie uns zur Verfügung stellten; ursprünglich nur vorübergehend, bis meine Eltern genug verdient hätten, um sich Möbel und eine eigene Wohnung zu leisten. Doch aus einem mir unerfindlichen Grund wohnten wir noch in dem hässlichen, alten Haus, als meine Großeltern bereits tot waren.
Der Krieg, vor dem wir geflüchtet waren, ging zu Ende, ehe wir uns in Alexandria halbwegs einrichten konnten. Meine Mutter bat meinen Vater fast schon auf Knien, zurückzukehren, doch er traute weder den Ägyptern noch den Israelis. Wenn sie nun schon zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehnts Krieg
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