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Morphogenesis

Morphogenesis

Titel: Morphogenesis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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das Kind und der Mensch, der ich früher einmal gewesen war, vor fast dreißig Jahren. In zunehmendem Maße entfremdete ich mich auch von meinen Eltern – und den Menschen, unter denen ich lebte.
    Als ich vierzehn war, starb meine Großmutter, und wir erbten das Haus und die Habe meiner Großeltern. Während wir das Wertlose vom Nützlichen trennten und innerhalb des Hauses neue Zimmer bezogen, entdeckte ich das Buch wieder und verschlang es noch am selben Abend im Bett. Wozu ich Jahre zuvor noch nicht reif gewesen war, packte mich nun mit voller Wucht. Ich lebte mich in die Welt des alten Ägypten hinein und begann mich mit ihren Göttern zu identifizieren wie andere Jugendliche mit ihren Helden des Kinos oder der Rockmusik. Meine zur Gewohnheit gewordenen Träume unterstützten diesen Drang nach der Vergangenheit durch eidetische Visionen dieser versunkenen Kultur. Sie wurden so leibhaftig und fühlbar, als wären sie die Erinnerungen des erst vergangenen Tages. Ich baute mein Zimmer zu einem ägyptischen Tempel um und hätte am Ufer des Loch Lomond am liebsten einen zweiten Leuchtturm von Pharos errichtet.
    Als ich mich dem Studium der Archäologie und Ägyptologie zuwandte, mit denen ich bis heute meinen Lebensunterhalt bestreite, war ich überzeugt davon, dass das, was mich erweckt hatte, dies aus einem besonderen Grund getan hatte. Giza war zu meinem Alter Ego geworden. Zu meinem Animus.
    Ich war der Grenzgänger.
     
    Ich kippte den Rest des Rotweins in mich hinein, holte aus und warf das Glas in hohem Bogen ins nahe Wasser. Nachdem ich hinter einem Busch meine Blase entleert hatte, stakste ich auf die weit offen stehenden Verandatüren zu. Die Ägypter sind gutmütig und geduldig, deshalb kommen sie auch mit unzumutbaren Situationen zurecht – wie beispielsweise einem betrunkenen Archäologen, der sich nach dem Weg zum Casino erkundigt.
    Kurz darauf stolperte ich die mit bordeauxrotem Teppich ausgelegten Stufen empor in den ersten Stock, orientierte mich am wachsenden Lärm menschlicher Vergnügungssucht – und lief praktisch direkt in die Arme von Sahia. Wir stießen in der Eingangspforte zum Casino zusammen, oder besser gesagt: Ich stieß sie wieder hinein, denn sie war offensichtlich im Begriff, den Saal zu verlassen. Sahia fing meinen drohenden Sturz mit beiden Armen auf, und in ihren anfänglich erschrockenen Gesichtsausdruck mischten sich Belustigung und Interesse.
    Junge Ägypterinnen fallen zuerst auf wegen ihrer dunklen, geheimnisvollen Augen. Dazu kommen anerzogene Zurückhaltung und ein sanfter Tonfall. Bis auf die Augen ändert sich all das spätestens, wenn die Hüllen fallen …
    »Em Hotep!«, grüßte sie traditionell. Ihre Stimme war sinnlich und gefasst. »Wollen Sie etwa in diesem Zustand spielen?« Sie sprach gepflegtes Englisch, ihr warmer Atem strich mit einer Strähne ihres offenen schwarzen Haares über meine Wange.
    Das Erste, was ich von ihr wahrnahm, waren ihr zierlicher Körper, an dem ich Halt suchend hing, und ihr eigenartig berauschendes Parfum. Woher zauberte dieses Geschöpf nur einen solchen Duft? Ich riss mich zusammen und stellte einen diskreten Abstand zu ihr her. Am liebsten jedoch hätte ich sie sofort in den Fahrstuhl getragen und ihr Kairo aus dem 5. Stock gezeigt. »Verzeihen Sie«, entschuldigte ich mich, nachdem sie sich mir vorgestellt hatte, und musterte sie unverhohlen. Sahia hatte schöne, ebenmäßige Gesichtszüge und intelligente, im herrschenden Licht fast schon schwarze Augen. Sie besaß einen angenehm goldbraunen Teint, einzig bedeckt von dezenter grüner Augenschminke. Ihre Nase war elegant geschwungen, ihre Oberlippe ein wenig voller als ihre Unterlippe, mit einer kleinen Einkerbung in der Mitte, was mich an eine Eidechse erinnerte.
    Sahia schien mein Blick zu schmeicheln, denn sie senkte zwar die Augen, wandte jedoch das Gesicht nicht ab.
    »Zufrieden mit dem, was Sie sehen?«, fragte sie schließlich.
    »Ich bin beeindruckt«, gestand ich. »Haben Sie mir die Giftschlange geschickt?«
    Sahia lachte auf. »Ich hoffe, meine kleine Botschafterin hat die Begegnung mit ihnen überlebt.«
    »Sie befindet sich in bester Obhut, denke ich.« Erneut kribbelte meine Haut bei dem Gedanken an die Kobra. »Sagen Sie, sind wir uns schon einmal begegnet?«
    »Oh ja …« Der Blick der Frau war dunkel und erwartungsvoll.
    »Aber daran würde ich mich zweifellos erinnern.« Ich starrte Sahia weiterhin an, in der Hoffnung, in meinem Kopf würde es endlich ›Klick‹

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