Mortimer & Miss Molly
und eine Nacht entfernt, wenn man, wie Ninos Eltern, den Weg zu Fuß ging. Endlich dort angekommen, haben sie nur mehr den Leichnam des Söhnchens vorgefunden, zu müde, um noch zu weinen – doch dann haben sie einen Karren besorgt und das Kind nach Hause mitgenommen.
Wenn Marco und Julia die Inschrift auf der Gedenktafel lasen, brauchten sie immer eine Weile, um sich wieder ganz wohl zu fühlen. Trotzdem ging die Sonne meist sehr schön unter dort oben in San Vito Alto, und es lohnte, dieses tägliche Schauspiel abzuwarten. Dazu setzten sie sich wieder auf die niedrige Mauer, das war ein Logenplatz für den Sonnenuntergang. Umgeben von Zypressen, die man gegen die tief stehende Sonne wie einen Scherenschnitt sah, lag etwas weiter unten der kleine Friedhof, auf dem nicht nur Ninos Brüder begraben waren, sondern auch Miss Molly.
9
Dafür interessierten sie sich aber erst, nachdem ihnen der alte Amerikaner seine Geschichte erzählt hatte. Das heißt, nachdem er
begonnen
hatte, sie zu erzählen. Der alte Amerikaner, der mit ihnen im selben Albergo wohnte.
Le vieux Hemingway
oder
Il vecchio Hemingway
, wie sie ihn vorerst nannten.
Merkwürdig – nachdem ihnen seine Anwesenheit bewusst geworden war, damals, als sie ihn, vom Fluss zurückkehrend, zum ersten Mal am Fenster stehen gesehen hatten, sahen sie ihn dort jeden Abend. Manchmal sahen sie ihn auch schon am Morgen, wenn sie sich beim Weggehen umdrehten, weil sie sich einbildeten, seinen Blick im Rücken zu spüren. Er stand am Fenster. Darauf konnten sie sich verlassen. Aber im Inneren des Hotels, auf dem Gang oder im Treppenhaus, begegneten sie ihm nie.
Zwischen
seinem
Zimmer (der Nummer 9) und
ihrem
Zimmer (der Nummer 11) lag bloß das unbewohnte Zimmer Nummer 10.
Doch sie sahen ihn nicht, und sie hörten ihn nicht.
Er war, soviel sie von unten, von der Piazza aus, zu sehen bekamen (sein vom Fenster gerahmtes Brustbild gewissermaßen), ein korpulenter, wahrscheinlich an die neunzig Kilo schwerer Mann. Aber er atmete und bewegte sich offenbar geräuschlos.
Ein paar Mal horchte Julia an der Tür seines Zimmers.
Doch da dort drinnen anscheinend das Fenster offen war, hörte sie nur das Treiben unten auf der Piazza.
Vielleicht, witzelten sie, sei er nur eine Attrappe.
Aber dann stand er eines Abends leibhaftig vor ihrer Tür.
Es hatte geklopft, sie waren ein bisschen erschrocken. Im Zimmer war es heiß. Sie waren nur leicht bekleidet.
Chi è?
Wer ist da?, rief Marco.
The man from the other room
, sagte die Stimme von draußen.
Marco verstand nicht gleich. Englisch war nicht seine Stärke.
Julia hatte in der Hast eines seiner Hemden angezogen, an dem aber oben ein Knopf fehlte.
Sorry, scusi
, sagte der Nachbar, sobald Marco die Tür einen Spaltbreit geöffnet hatte.
Das war er also. Hohe Stirn, buschige Augenbrauen, weißer Bart. Bei einem Hemingway-Lookalike-Wettbewerb hätte er wirklich Chancen gehabt.
Non volevo disturbare
, sagte er.
I didn
’
t want to disturb you
.
Er sprach abwechselnd Italienisch mit starkem Akzent und ein sehr amerikanisches Englisch. Dabei blieb er den ganzen folgenden Abend. Vielleicht trug auch das dazu bei, dass sich Marco und Julia über manche Details seiner Geschichte, die er ihnen im Lauf dieses Abends erzählte, später nicht ganz einig waren.
Sein Name sei Mortimer Mellows, es tue ihm leid, wenn er sie bei irgendetwas gestört habe ... Doch die Sache sei
die
, es sei einfach
so
... Ich sehe Sie, sagte er, öfter hinüber in den Park gehen ... Und zu diesem Park, müssen Sie wissen, habe ich eine ganz besondere Beziehung ... Aber natürlich
können
Sie das nicht wissen ... Deswegen würde ich gerne ... Darum wäre es vielleicht gut ... Also, mit einem Wort, daher habe ich mir gedacht ... Es würde mir Freude machen, Sie zu einem schönen Abendessen einzuladen.
So ungefähr seine ersten Worte. Er wisse ein Lokal, fuhr er fort, das ihnen vielleicht gefallen würde ... Eine nette, kleine Osteria am Fuß des Monte Amiata ... Man könne dort frische Pilze essen und Wildschwein nach Jägerart und ein ehrliches Glas Wein dazu trinken.
Konnten sie so eine Einladung ausschlagen? Natürlich waren Marco und Julia nicht ganz sicher, was sie von dieser plötzlichen Anwandlung halten sollten. Aber was ihnen da kulinarisch in Aussicht gestellt wurde, klang verlockend. Sie lebten ja damals noch ziemlich
alternativ
, ihrem begrenzten Budget entsprechend. Fuhren sie einmal nach Pienza, wo es eine gute Pizzeria gab, und leisteten
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