Mortimer & Miss Molly
unten am Fluss freuten sie sich über die guten und einfachen Sachen, die sie um wenig Geld gekauft hatten. Und alles schmeckte ihnen: Grissini, Oliven und die schönen roten Zwiebeln, deren Geruch und Geschmack sie aneinander nicht störte, und sogar der verdächtig billige Rotwein, den man damals in Doppelliterflaschen bekam, ein so genannter Chianti, alles andere als
classico
.
Und sie entdeckten leer stehende Häuser in der Umgebung, die zwar versperrt waren, aber unter deren Arkaden und Torbögen man im Schatten sitzen und träumen konnte. Fantasiespiele spielten sie, in denen sie so taten, als gehörten diese Anwesen ihnen. Diese schönen, alten, toskanischen Häuser, von denen nicht wenige schon ein paar Jahre später adaptiert und für teures Geld vermietet, wenn nicht verkauft wurden. Stell dir vor, sagte Marco,
figurati
: Wir wären ..., wir hätten ..., wir würden ...
Und Julia erinnerte sich an die Fantasiespiele, die sie als Mädchen von sechs, sieben, acht Jahren mit den Nachbarkindern gespielt hatte, dort, wo sie damals daheim gewesen war, in einer österreichischen Kleinstadt. Bei solchen Spielen gebrauchten sie einen eigenartigen Konjunktiv, den es im so genannten Hochdeutsch nicht gibt. Ich
tät
eine Prinzessin sein, und du
tätst
ein Prinz sein, zum Beispiel. Oder: Du
tätst
mein Mann sein, und ich
tät
deine Frau sein, und wir
täten
drei Kinder haben.
Mit Marco konnte sie solche Spiele auch jetzt noch spielen, und das nahm sie sehr für ihn ein. Prinzessin und Prinz spielten sie gern, in vielen Versionen, aber immer mit Wachküssen, doch interessanter noch war das Spiel
La Belle et la Bête
. Da bemühte sich Marco, wie ein Ungeheuer dreinzusehen (er hielt sich dabei an die Mimik des größten, geilsten Schildkrötenmännchens im Hinterhofgarten des
Caffè Italiano
). Und Julia fand ihn zwar furchtbar, wenn er so dreinsah, mit offenem Mund, am Gaumen klebender Zunge und – keine Ahnung, wie er das machte – fast echt wirkenden, ganz schmalen Reptilienaugen, nur war er in seiner Hässlichkeit so arm, dass sie nicht umhinkonnte, ihn zu streicheln, und es gab ja Aussicht auf Erlösung.
Stimmt, vorerst erwogen sie auch noch weiterzufahren, aus dem Binnenland, in dem sie hier gelandet waren, doch noch an eine Küste, sei es die tyrrhenische, sei es die adriatische. Aber dann entdeckten sie immer noch etwas Neues, das ihnen besonders gut gefiel. Zum Beispiel das Wehrdorf San Vito Alto, kaum mehr als ein Dutzend Häuser, die, geschützt von einer vielleicht durch ein Erdbeben abgesunkenen Mauer, aus Weinbergen und hügelan wucherndem Brombeergesträuch hervorzuwachsen schienen. Auf dem kleinen Plateau vor dem Westtor war diese Mauer ganz niedrig, da saßen sie gern und schauten über das Hügelmeer, dessen Wellenberge und Wellentäler in erstaunlich vielen Farbtönen zwischen Grasgrün und Erdbraun changierten.
Drinnen zwischen den Häusern trafen sie einen grauköpfigen Mann, den sie fragten, wie viele Bewohner das Dorf habe.
Una mano
, antwortete er lächelnd, eine Handvoll, aber Marco und Julia sahen dort lang keinen Menschen außer ihm. Nur jede Menge Katzen, die er mit
pici
, den handgemachten Spaghetti, fütterte, die als besondere Spezialität der Gegend galten. Und dieses Futter tat den Katzen offenbar gut, denn sie waren ebenso freundlich wie ihr Wohltäter, der Narciso hieß, und schmeichelten um Julias Beine.
Um dieses San Vito Alto vom Westtor bis zum Osttor oder umgekehrt zu durchqueren, brauchte man nicht mehr als fünf Minuten. Etwas abseits stand ein trotzig wirkender Turm mit einer Gedenktafel aus Travertin. Hier war die letzte Zuflucht der vierzehn Partisanen gewesen, die im Juni 1944, am Vorabend des deutschen Rückzugs, noch erschossen worden waren. Darunter zwei mit demselben Familiennamen, anscheinend Brüder, Rinaldo und Angelo F., im Alter von acht und zwölf Jahren.
Dass es sich bei diesen Buben um die beiden älteren Brüder Ninos handelte, erzählte ihnen der Briefträger erst später. Sie wären seine älteren Brüder gewesen, aber nun war er, der nach ihnen geboren war, der weitaus Ältere. Darüber denke er oft nach, sagte er, das sei schwer zu fassen. Und dass sie damals, am Vorabend der Befreiung, wie es auf der Gedenktafel hieß, haben sterben müssen.
Das heißt, nur der Größere sei gleich tot gewesen. Den Kleineren hätten die Amerikaner am nächsten Tag noch lebend gefunden und per Hubschrauber ins Militärhospital nach Orvieto gebracht. Das lag zwei Tage
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