Mortimer & Miss Molly
Stimme hinter sich, nicht die innere Stimme, die sie zuvor zu hören geglaubt hatte, sondern eindeutig eine Stimme aus der Außenwelt.
Ma Signorina
,
che cosa fa? È molto pericoloso!
Und bevor sie die Tür ins Freie noch wirklich geöffnet hatte, berührte sie die Hand des Schaffners, dem diese Stimme gehörte, an der Schulter. Und im nächsten Moment donnerte der Gegenzug auf dem Nachbargleis vorbei.
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Und dann fuhr der Zug schon seit einer Weile wieder, und Julia saß auf dem Fensterplatz, auf dem sie zuvor gesessen war. Und sie tat so, als ob sie schliefe, aber die zwei Personen, die mit ihr im Abteil saßen, ein älterer Mann und eine ältere Frau, vielleicht ein Ehepaar, vielleicht auch nicht, bemerkten, dass sie weinte. Und sie redeten ihr leise gut zu, na, na, Signorina, so schlimm kann doch das alles gar nicht sein. Und sie wussten ja nicht, was
das alles
war, aber der tröstliche Zuspruch war gut gemeint, und dann öffneten sie mit Geraschel eine mit einer Schleife verzierte Zellophanpackung, die sie vermutlich irgendjemandem hatten mitbringen wollen, aber das hier war ein
caso di emergenza
, ein Notfall, die junge Frau, die ihnen da gegenübersaß, hatte die Stärkung eher nötig, das sahen sie, das spürten sie, darüber waren sie sich einig, und fütterten Julia mit Schokolade.
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In Florenz stieg das freundliche Paar aus, und Julia blieb allein im Abteil. Sie zog ihre Jacke, die sie an den Haken neben dem Fenster gehängt hatte, übers Gesicht und versuchte zu schlafen. Doch das gelang nicht, es ging ihr zu viel durch den Kopf. Die letzten Tage und Nächte, die Auseinandersetzungen mit Marco, ihr Aufbruch an diesem Morgen ...
Was Marco wohl ohne sie in San Vito machte ... Allein in diesem schon für zwei zu großen Haus ... Allein in diesem schönen, aber doch so sehr mit ihrer Zweisamkeit verbundenen Ambiente ... Aber vielleicht, ja wahrscheinlich war er ja gar nicht mehr in San Vito, sondern ebenfalls schon auf dem Rückweg.
Ja, vielleicht war es so und sollte so sein. Sie fuhr nach Wien zurück und er nach Turin. Und das wäre es dann eben gewesen. So würden sich ihre Wege trennen. Aus, Schluss, basta.
Was allerdings ihre Rückfahrt nach Wien betraf, sollte die länger dauern, als sie gedacht hatte. Denn der Zug blieb noch einige Male auf offener Strecke stehen. Zuerst im Apennin, dann in der Poebene, schließlich noch vor Padua, mit schönem Blick auf die Euganeischen Hügel. Etwa um diese Zeit fuhr ihr Anschlusszug in Mestre davon.
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Das war der Grund, warum Julia diese Nacht in Mestre verbrachte. In einer kleinen Pension, in der Nähe des Bahnhofs. Zwar hatte ihr der Schaffner, der ihr wahrscheinlich das Leben gerettet hatte, geraten, lieber bis zum Endbahnhof in Venedig mitzufahren und in einem hübschen Hotel im Bezirk Cannaregio, nur einen Katzensprung entfernt vom Canal Grande, zu übernachten, dessen Adresse er ihr für alle Fälle aufschrieb. Aber auf eine Nacht in Venedig hatte Julia an diesem Abend einfach keine Lust.
Sie fühlte sich äußerlich müde und innerlich wund. Auf den Nachtzug zu warten, der irgendwann nach eins in Mestre halten sollte, schien ihr unter diesen Umständen unzumutbar. Nein, sie würde am Vormittag weiterfahren. Morgen ist ein anderer Tag, dachte sie, und hoffentlich ein besserer.
Nun lag sie also in einem sehr ökonomisch eingerichteten Zimmer, in dem es zwischen einem Tisch und zwei Sesseln aus Plastik, einem mit Resopal furnierten Schrank und der mit Vignetten in Fischform verzierten Duschkabine keinen überflüssigen Platz gab, in einem extraschmalen Singlebett. Und hörte das Rollen der Züge, die ankamen und abfuhren. Die Pension lag wirklich sehr nahe am Bahnhof, zuvor war sie froh gewesen, dass sie nicht weit hatte gehen müssen. Doch wenn sie bedacht hätte, dass man hier die Züge so laut hörte, wäre sie vielleicht doch noch ein paar Schritte weitergegangen.
Nicht nur das Rollen der Züge hörte sie, sondern auch die Lautsprecherdurchsagen über alle Abfahrten und Ankünfte. Das waren Durchsagen auf Italienisch und Englisch. Irgendwann fiel ihr auf, dass die weibliche Lautsprecherstimme ein erstaunlich gutes Englisch sprach. Aber das war dann vielleicht schon die Stimme Miss Mollys.
Can a touch last so long?
Lässt sich eine Berührung so lange spüren?
Indeed
. Was denn sonst?
What else is there to last?
Weißt du, anfangs, da hab ich es noch gar nicht so recht begriffen. Der Schock, dass er weg war, hat für ein paar Tage oder Wochen
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