Mortimer & Miss Molly
würde, so ohne sie. Aber wahrscheinlich hatte er sich einfach noch einmal ins Bett gelegt, in dem er jetzt genug Platz hatte, um sein Bein auszustrecken oder hochzulagern, der Ärmste, vorläufig ohne Bettgenossin an seiner Seite. Doch das konnte sich ja ändern, und so weit, dass er ihr richtig leidtat, wollte sie es nicht kommen lassen.
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Und dann war sie schon auf dem Bahnhof und löste ein Ticket.
Vienna, andata
, sagte sie,
senza ritorno
. Direkt könne sie mit dem Zug, der um 9 Uhr 20 aus Rom kam, nicht fahren, sagte ihr der Mann am Schalter. Dessen Zielbahnhof sei Venedig, aber sie habe einen Anschlusszug in Mestre.
Und der Zug kommt pünktlich, und Julia steigt ein und findet einen Platz in einem erfreulicherweise nur locker besetzten Abteil und schaut noch einmal aus dem Fenster. Und da sieht sie unter den Leuten, die am Perron stehen geblieben sind, sei es, weil sie jemanden begleitet haben, sei es, weil sie auf einen anderen Zug warten, einen Mann, der aussieht wie Marco. Und er winkt, aber er schaut nicht wirklich zu ihr her, sondern, so ihr Eindruck, er winkt jemand anderem. Irgendeiner anderen Person, die an einem anderen Fenster steht.
Und jetzt fährt der Zug auch schon los, und dann sieht sie den Mann, der Marco gewesen sein könnte, nicht mehr. Und wahrscheinlich ist es doch nicht Marco gewesen, denkt sie, wahrscheinlich war es doch nicht Marco. Und der Zug gewinnt an Fahrt und ist schon am Stadtrand von Chiusi, das ist ja keine große Stadt. Und eigentlich ist es hier, an der Peripherie mit den üblichen Industriebauten, recht hässlich, und es besteht kein Grund, am Fenster stehen zu bleiben.
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Kaum hatte sich Julia hingesetzt und ein Buch aufgeschlagen, in dem sie zu lesen begann, ohne mitzubekommen, was sie las, verlangsamte der Zug seine Fahrt allerdings auch schon wieder. Und wurde immer langsamer und langsamer und blieb schließlich vollends stehen. Und dann kam eine Lautsprecherdurchsage, die Fahrgäste sollten ein wenig Geduld haben. Es handle sich um einen kleinen Defekt, der binnen kurzem behoben sein werde, aber ein paar Minuten könne es schon dauern.
Und Julia stand wieder auf und schaute aus dem Fenster. Draußen ein Stoppelfeld, in dem Störche oder Reiher stakten, dahinter eine Zeile Leitungsmasten. Ab und zu sah es so aus, als ob dort etwas fuhr, wahrscheinlich war das die Landstraße. Und da hatte sie die verrückte Idee auszusteigen: Steig aus, sagte ihre innere Stimme, steig aus, Julia, der Zug ist hier nicht zufällig stehen geblieben, das ist die Gelegenheit, die dir noch gegeben wird, mit ein bisschen Courage kannst du noch alles korrigieren, lass diese Gelegenheit nicht vorbeigehen!
Und schon hatte sie die Reisetasche aus dem Gepäcknetz genommen, die Abteiltür geöffnet und hinter sich geschlossen und sich durch den Gang, auf dem einige Leute im Weg standen, zum Ausstieg gedrängt. Und da stand sie dann und war schon drauf und dran, die Schnalle zu drücken, wobei sie die Reisetasche kurz abstellen und etwas in die Knie gehen musste (merkwürdig, wie tief diese Türschnallen in den Zügen angebracht sind). Und las das Wort
attenzione
, das da in roten Buchstaben geschrieben stand, und dass man die Tür während der Fahrt auf keinen Fall öffnen sollte. Aber das war ja jetzt keine Fahrt, sondern ein Halt, wenn auch auf offener Strecke.
Und überlegte, dass sie allerdings Acht geben musste, wenn sie von der letzten Stufe herunterstieg, denn da draußen war ja kein Bahnsteig, sondern nur der Gleiskörper. Und das würde ein relativ großer Schritt sein, bei dem sie sich nicht auch noch den Fuß verstauchen wollte. Womöglich den Knöchel, das wäre besonders originell, wenn sie mit der gleichen Verletzung wie Marco wieder in San Vito ankäme. Wenn sie daran dachte, wie gut sie und Marco dann wieder zusammenpassen würden, musste sie fast lachen.
Aber nein, das sollte sie lieber doch vermeiden. Sie musste ja ein Stück Weg zu Fuß zurücklegen, auch wenn sie hoffte, per Autostopp weiterzukommen, sobald sie die Landstraße erreicht hatte. Und mit der Reisetasche in der Hand und bei dem tiefen Boden, der nach den Regenfällen der letzten Tage zu erwarten war, würde der Weg durchs Stoppelfeld voraussichtlich ohnehin etwas anstrengend. Also besser nicht umkippen, sondern sehr aufmerksam sein,
attento
heißt das auf Italienisch, das war ein Wort, zu dem sie sich immer ein Tier vorgestellt hatte, das die Ohren spitzt und lauscht.
Und dann hörte sie allerdings eine
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