Mortimer & Miss Molly
atmete auf, als die beiden draußen waren. Die waren verstört gewesen. Das hatten sie nicht erwartet. Dass sie die Therapeutin mehr oder minder vor die Tür setzte. Aber für diese abgebrochene Therapiestunde hatte ihnen Julia ohnehin nur den halben Preis verrechnet.
Sie rauchte eine Zigarette, um sich ein wenig zu beruhigen. Sie ging hin und her, die zwei Zimmer, die sie als Praxis gemietet hatte, waren ganz geräumig, aber heute fühlte sie sich trotzdem darin eingesperrt. Wie eins der Tiere im Zoo von Schönbrunn, den sie öfter mit Benny besucht hatte, als er noch kleiner gewesen war. Mama, warum laufen die Tiere immer so nervös hin und her?, hatte sie Benny damals gefragt.
Namentlich die Raubkatzen, die sie so liebten. Die Löwen, die Tiger, die Leoparden und Panter vor allem. Die hatten inzwischen ja etwas größere Gehege. Mit Auslauf in ihre Vorgärten sozusagen, aber eingesperrt waren sie trotzdem.
Povere creature
, dachte Julia – schon wieder Italienisch. Zum Unterschied von denen konnte sie ja einfach hinaus aus ihrem Käfig. Draußen war der Spittelberg, eine vor dem Abriss, der ehemals schon gedroht hatte, gerettete und adaptierte Biedermeierzeile. Da gab es Lokale, wo man im Freien sitzen konnte, und es war ein lauer Abend.
Sie dämpfte die Zigarette aus und nahm ihre Jacke von der Kleiderablage, denn später würde es vielleicht doch noch kühler. Und dann kam sie wieder am Telefon vorbei und sah das Lämpchen blinken. Ach ja, stimmt, dachte sie, dieser Anruf von vorhin. Und sie schaltete den Apparat wieder ein und nahm den Hörer ab und hörte.
2
Ciao Julia
, sagte die Stimme auf dem Tonband,
sono io, Marco
. Ihm sei bewusst, dass sein Anruf vielleicht etwas überraschend komme. Es sei übrigens gar nicht leicht für ihn gewesen, ihre Nummer herauszukriegen. Weil sie ja jetzt einen Doppelnamen habe.
Ma lasciamo d
a
parte queste cose secondarie
, aber lassen wir diese Nebensächlichkeiten. Er sei in San Vito. Und er habe neue Nachrichten von Mortimer. Er könne sich vorstellen, dass die auch sie interessieren würden. Du hast nämlich Recht gehabt: Die Geschichte zwischen Mortimer und Molly
war
eine Liebesgeschichte.
Aber davon vielleicht demnächst mehr, sagte er. Das lässt sich am Telefon nicht so einfach erzählen. Noch dazu, wenn man nur auf Tonband spricht. Weißt du, ich rede nicht so gerne ins Leere.
Julia! Bist du nicht vielleicht
doch
da? ... Julia! Heb ab! ... Julia! Es ist doch hoffentlich nicht so, dass du nicht mehr mit mir sprechen willst?! ... Ich bin, wie gesagt, in San Vito. Ich hab mich hier übrigens in einem sehr hübschen Haus einquartiert ... Ich bin ...
Aber an dieser Stelle war das Tonband zu Ende.
Julia hätte sich die zweite Zigarette fast verkehrt herum angeraucht. Marco! Wie lang hatte sie nichts mehr von ihm gehört? Nach dem verunglückten Sommer von damals hatten sie einander noch ein paar Briefe geschrieben. Bis in den Herbst hinein, als er dann schon drüben in San Francisco gewesen war.
Vorerst lange, traurige, heftige Briefe. Aber nach und nach immer kürzere, resignierte. Dann hatte sie ihm geschrieben, dass sie den Mann heiraten würde, von dem sie ein Kind bekam.
Auguri
, hatte er geantwortet, na dann, beste Glückwünsche.
Benjamin war jetzt zwölf. Das war also fast dreizehn Jahre her. Dreizehn Jahre kein Wort, kein Ton von Marco. Und jetzt rief er ganz einfach an, und zwar aus San Vito! War das nach diesem langen Schweigen eigentlich eine Frechheit, oder war das rührend?
Sie spulte das Tonband zurück. Diese vielen, ihre Nerven strapazierenden Klientenstimmen, die darauf gespeichert waren! Warum bloß hatte sie die nicht längst gelöscht? Endlich wieder Marco. Ja, es war eindeutig seine Stimme. Auch wenn sie ein wenig tiefer klang als in ihrer Erinnerung.
Marco in San Vito. Konnte das wirklich wahr sein? Sie sah nach, ob das Gerät die Nummer gespeichert hatte. Ja, da war sie. Sie wählte die Nummer und hörte das Klingelzeichen. Und dann, als sie schon wieder auflegen wollte, hob jemand ab.
Pronto? Caffè Italiano
. – Von dort hatte er also angerufen! –
Chi è?
Wer spricht? Das hätte Julia auch fragen können. Der Kellner, den Bruna nach dem Tod Pietros eingestellt hatte, war das nicht.
Scusi
, sagte sie.
C
’
è per caso il signor Marco?
Che Marco?
, fragte die fremde Stimme. Was für ein Marco?
Un Piemontese
, sagte Julia. Einer aus Piemont.
Questo tipo grosso?
, sagte die Stimme, die wahrscheinlich einem neuen Kellner
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