Mortlock
aufloderte. Eine Aura aus blutrotem Licht umschloss Wiggins, und er sank auf die Knie, die Hände auf sein Herz gepresst. Alfie stürzte zu ihm.
»Nein! Bitte nicht, Mr Mortlock!«, rief er mit Tränen in den Augen. »Wiggins ist wie ein Vater für mich gewesen. Nehmen Sie ihn mir nicht weg!«
»Ein Vater?« Mortlocks Augen glühten rot vom Licht der Amarant. Wiggins schrie erneut auf und krümmte sich vor Schmerz zusammen. »Nur davon habe ich zum Schluss dort unten in der kalten Erde geträumt. Ich wollte euer Vater sein, euch beide wiedersehen …«
»Dann verschonen Sie ihn, Mr Mortlock, ich flehe Siean!« Alfie warf sich zwischen Wiggins und Mortlock. »Um meinetwillen!«
Mortlock ließ die Hand sinken, und das tödliche Leuchten verlosch. Wiggins stieß ein langes, rasselndes Keuchen aus und sank stöhnend zu Boden. Josie sah zu, wie Alfie schluchzend die Arme um den alten Mann legte und ihn wiegte wie ein kleines Kind.
»Es ist mir gleich, was Sie getan haben, Mr Wiggins«, schniefte er. »Ich will nicht, dass Sie sterben.«
Mortlock stand reglos daneben. Das Licht der Amarant war nur noch ein mattes Glühen, und ein tiefer Seufzer fuhr durch seinen maroden Körper wie der Winterwind durch totes Laub.
»Ich habe so viel verloren«, flüsterte er und strich mit den Fingerspitzen über die purpurrote Blüte in seiner Brust. »Und wofür?«
»Nun, wenn du die Amarant nicht willst, warum gibst du sie dann nicht jemandem, der etwas damit anfangen kann?«, fragte eine Stimme aus der Dunkelheit.
Josie fuhr herum. Hinter ihr stand Lord Corvis, lässig an einen hohen Grabstein gelehnt. Er sah kleiner aus, als sie ihn in Erinnerung hatte, und seine Schultern erschienen ihr runder. Sein Gesicht lag im Dunkeln, aber der Umriss wirkte spitzer und die Nase länger. Neben ihm standen Tante Veronica und Tante Jay in ihrer menschlichen Form, den Blick auf Josie geheftet.
»Ihr solltet vorsichtiger sein, Kinder«, sagte Tante Veronica spöttisch. »Unsere Krähen haben euch seit eurer Ankunft in London beobachtet. Sie haben uns Bescheid gegeben, als ihr diesen wurmzerfressenen Kahn verlassen habt. Und seither folgen wir euch.«
»Corvis?« Mortlock wirkte sichtlich irritiert. »Bist du das?«
»In Fleisch und Blut.« Humpelnd kam Corvis näher. Josie starrte ihn an. Er hatte sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Schwarze Federn wuchsen wie Stacheln aus seinem Kopf und bedeckten sein Gesicht. Die Haut darunter hatte sich in dunkles, faltiges Leder verwandelt, und an der Stelle seiner Nase wuchs jetzt ein scharfer Schnabel. »Mehr oder weniger.«
»Allmächtiger, wie siehst du denn aus?«, fragte Mortlock mit angewiderter Miene.
»Du hast es gerade nötig«, entgegnete Corvis keckernd und stützte sich mit seiner krallenbewehrten Hand an einem Grabstein ab. »Ich fürchte, die Amarant ist uns beiden nicht sehr gut bekommen. Meine Krähendamen haben ihre Lebenskraft von mir bekommen, aber wie es scheint, haben sie mir auch einiges vermacht.«
Mit einem nervösen Kribbeln sah Josie sich um. Wo war die dritte Tante? Offenbar versuchte Corvis, sie alle abzulenken, während Tante Mag sich von irgendwoher anschlich.
»Tja, die Gabe der Amarant ist nicht immer hübsch anzuschauen«, sagte Corvis ungerührt. »Aber wenn ich sie erst mal in meinem Besitz habe, ist es egal, wie ich aussehe.«
Plötzlich bemerkte Josie eine Bewegung in der Finsternis. Sie versuchte noch, Mortlock zu warnen, doch ihr Schrei kam zu spät. Tante Mag sprang von hinten auf ihn zu, ein triumphierendes Funkeln in den Augen. Ein Zucken durchfuhr Mortlocks halb verwesten, knochigen Körper, dann sah er an sich hinunter. Josie stöhnte verzweifelt auf und schüttelte den Kopf.
Tante Mag hatte ihren Schnabel durch sein fauliges Fleisch gestoßen und sich die Amarant geschnappt. Mit einem kurzenRuck zog sie sie aus seinem Rücken, flog mit einem Satz zu Corvis und hielt ihm ergeben die Blume hin. Er nahm sie und hielt sie hoch.
Mortlock schwankte und fiel auf die Knie. Das Licht in seinen Augen verlosch, als die Kraft der Amarant aus seinem Körper schwand. Verzweifelt sah er Josie an. Sie erwiderte seinen Blick, und plötzlich liefen ihr Tränen über die Wangen, als sie das zerstörte Gesicht ihres Vaters ansah. Sie hatte diesen grausigen Scheintoten gefürchtet und gehasst. Doch nun tat er ihr leid.
»Endlich!«, krächzte Corvis und hob die Amarant über seinen Kopf. »Die Macht, Ordnung in diese chaotische Welt zu bringen.«
Denn Liebe
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