Morton, Kate
wie es dazu gekommen ist, aber wahrscheinlich lag es unter anderem
daran, dass der Atlas schon ziemlich überholt war. Und daran, dass ich
gedankenverloren die Landschaft bewundert hatte - die mit Schlüsselblumen
gesprenkelten Felder, die Wildblumen am Straßenrand -, anstatt auf die Straße
zu achten. Wie auch immer, ich wusste nicht mehr, wo ich war, und fuhr gerade
durch eine schmale, schattige Allee, als ich mir eingestehen musste, dass ich
keinen blassen Schimmer hatte, in welche Himmelsrichtung ich überhaupt
unterwegs war.
Aber noch
machte ich mir keine Sorgen. Früher oder später würde ich auf eine Kreuzung
stoßen oder zu einer Sehenswürdigkeit kommen oder den Stand eines Gemüsebauern
finden, wo man mir netterweise ein großes, rotes X in meine Karte malen würde.
Ich musste am Nachmittag nicht mehr ins Büro, alle Straßen führten schließlich
irgendwohin, ich brauchte einfach nur die Augen offenzuhalten.
Und so
entdeckte ich es. In einem Gestrüpp aus wild wucherndem Efeu. Es war einer von
diesen alten, weiß gestrichenen Wegweisern aus Holz, in die die Ortsnamen
geschnitzt sind. Milderhurst, stand
darauf, 3 Meilen.
Als ich
anhielt und das Schild noch einmal las, sträubten sich mir die Nackenhaare.
Eine seltsame Ahnung überkam mich, und die verschwommene Erinnerung, die ich
seit Februar, seit dem Eintreffen des Briefs bei meiner Mutter, nicht zu fassen
bekam, nahm auf einmal Konturen an. Ich stieg aus wie in Trance und folgte dem
Wegweiser. Mir war, als würde ich mich selbst von außen beobachten, ja, als
wüsste ich im Voraus, was ich vorfinden würde. Und vielleicht war es auch so.
Denn nach
einem knappen Kilometer, genau dort, wo ich es erwartet hatte, stand es. Aus
einem dichten Brombeergestrüpp erhob sich ein großes, eisernes Tor, das einmal
herrschaftlich gewesen war, dessen Flügel jetzt jedoch schief in den Angeln
hingen. Sie lehnten gegeneinander, als würden sie gemeinsam eine schwere Last
tragen. An dem kleinen Torhäuschen hing ein verrostetes Schild mit der
Aufschrift »Schloss Milderhurst«.
Mein Herz
pochte wie wild gegen meine Rippen, als ich die Straße überquerte und auf das
Tor zuging. Ich packte mit jeder Hand eine Stange, spürte kaltes, raues,
rostiges Eisen an den Handflächen. Langsam beugte ich mich vor und drückte die
Stirn an das Tor. Mein Blick folgte dem Schotterweg, der in einem Bogen den
Hügel hinauf und über eine Brücke führte, bis er sich in einem dichten Wald
verlor.
Alles sah
wunderschön und überwuchert und romantisch aus. Aber es war nicht der Anblick,
der mir den Atem raubte. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag, die absolute
Gewissheit, dass ich schon einmal hier gewesen war. Dass ich schon einmal vor
diesem Tor gestanden, zwischen seinen eisernen Stangen hindurchgelugt und die
Vögel beobachtet hatte, die wie Fetzen des Nachthimmels über dem dichten Wald
umherflatterten.
Einzelheiten
gewannen an Schärfe, und es war, als träte ich in einen Traum ein, als wäre ich
wieder das Kind von damals. Meine Finger umklammerten die Eisenstangen,
irgendwo tief in meinem Körper erkannte ich die Geste wieder. Genau so hatte
ich es schon einmal gemacht. Die Haut an meinen Handflächen erinnerte sich.
Ich erinnerte mich. Ein sonniger Tag, eine warme Brise spielte mit meinem
Kleid, meinem Sonntagskleid, am Rand meines Blickfelds der große Schatten
meiner Mutter.
Aus dem
Augenwinkel schaute ich zu ihr hinüber und sah, wie sie das Schloss
betrachtete, die dunkle, ferne Silhouette am Horizont. Ich hatte Durst, ich
schwitzte, ich wollte in dem See planschen, dessen glitzernde Oberfläche ich
durch das Tor sehen konnte. Ich wollte mit den Enten und den Reihern und den
Libellen, die zwischen dem Schilf am Ufer herumschossen, im Wasser schwimmen.
»Mum«,
sagte ich, aber sie antwortete nicht. »Mum?« Sie wandte sich mir zu und schaute
mich an, und für einen kurzen Moment schien sie mich nicht zu erkennen. In
ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, den ich nicht verstand. Sie war eine Fremde,
eine Erwachsene, deren Augen Geheimnisse bargen. Heute kann ich diese seltsame
Gefühlsmischung mit Worten beschreiben: Reue, Liebe, Trauer, Sehnsucht. Aber
damals war ich ratlos. Erst recht, als sie sagte: »Ich habe einen Fehler
gemacht. Ich hätte nicht herkommen sollen. Es ist zu spät.«
Ich glaube
nicht, dass ich etwas darauf erwidert habe. Jedenfalls nicht gleich. Ich hatte
keine Ahnung, was sie meinte, und ehe ich dazu kam, sie zu fragen, packte sie
mich an der
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