Morton Rhu - Leben und Werk
arbeiten und weniger Zeit zu Hause verbringen, liegt es zunehmend in der Verantwortung der Schule, die Kinder zu erziehen und ihnen Werte zu vermitteln. Man erwartet von uns längst nicht mehr nur reine Wissensvermittlung; heute sollen wir die Schüler auch hegen und pflegen, verhätscheln, schützen, ermuntern, bestrafen, wir sollen ihnen Körperpflege und Tischmanieren beibringen. Wenn man als Lehrer sechs Klassen mit jeweils etwa dreißig Schülern hat – wie soll man das dann eigentlich schaffen?, sagt die ratlose Leiterin der Highschool, die Gary und Brendan besuchen. Und der Biologielehrer fügt hinzu: Wir lesen in den Zeitungen, dass heutzutage, wo Eltern alle arbeiten und die Großeltern in Altersheimen leben, nicht mehr so viele Erwachsene da sind, an denen sich die Jungen orientieren können … Das Fehlen echter erwachsener Vorbilder könnte tatsächlich dazu führen, dass die Jugend sich die Darsteller aggressiver Fernseh- und Videofilme als Ersatzbilder nimmt.
Bestürzt und vielleicht sogar verstört stellen die Leser fest, wie sehr am Ende alles zusammenpasst. Liest man die Vielzahl der nach Erklärungen suchenden Stimmen, scheint die Konsequenz der beiden Jugendlichen fast zwangsläufig. Doch diese Nach sicht fehlt jeder der zu Wort kommenden Einzelpersonen, solange sie noch mit Gary und Brendan zusammen sind. Im Prozess des Lesens wird nachvollziehbar, dass wohl kaum jemand sich in einer vergleichbaren Situation aufmerksamer und überlegter verhalten hätte. Die Schuldfrage bleibt offen.
Im ersten und auch im aktualisierten Nachwort schreibt Klaus Hurrelmann: »Mit dem Buch liegt eine Rekonstruktion und dramaturgische Bearbeitung vor, die besser und unmittelbarer als jede wissenschaftliche Analyse nachvollziehen lässt, wie es zu Gewaltausbrüchen an Schulen kommen kann.« Dabei nimmt er den Argumentationsfaden Rhues auf: »Die Ausgangsbedingungen für die Entstehung von Aggressivität bei Schülerinnen und Schülern liegen zunächst außerhalb, Gewalt wird in die Schule gewissermaßen importiert. Viele Familien sind heute in schwierigen Situationen – wirtschaftlich und sozial … Das Aggressionspotenzial ist dann besonders hoch, wenn der soziale Halt der Familie fehlt … Den beiden Schülern Gary und Brendan werden in keinem Bereich des schulischen Alltags Anerkennung und Identifizierungsmöglichkeiten eingeräumt, im Gegenteil werden diese sogar systematisch abgeschnitten. Die Familien sind für sie zu schwach, um einen Gegenpol zu bilden.«
Neben Morton Rhues Roman »Ich knall euch ab!« gilt Michael Moores Film »Bowling for Columbine«, der 2003 mit dem Oskar für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde, als wohl wirkungsreichste dokumentarische Aufarbeitung des Amoklaufs an der Columbine Highschool. Auf seiner Reise durch Amerika, in der Moore viele politische und gesellschaftskritische Themen – alle bezogen auf jugendliche Waffengewalt – anschneidet, begegnet er auch Schockrocker Marylin Manson und Matt Stone, einem der Erfinder der satirischen US -Comic-Serie »Southpark«.
Marilyn Manson – von den beiden Columbine-Attentätern gerne gehört – wurde aufgrund der düsteren Inhalte seiner Musik von einigen US -Politikern auf die Liste der »ursächlichen Faktoren« für die Katastrophe von Columbine gesetzt. Auf Moores Frage, was Manson den Mitgliedern der Gemeinde von Columbine, also den direkt Betroffenen, denn sagen würde, wenn er die Möglichkeit hätte, mit ihnen zu sprechen, antwortet dieser schlicht: »Ich würde gar nichts sagen, ich würde ihnen zuhören. Und genau das hat niemand getan.« Hier wird die Bedeutung der Kommunikation – vor allem der Kommunikation mit Jugendlichen – als wichtige Präventivmaßnahme in schlichten Worten herausgestellt. »Ich knall euch ab!« regt genau diese so dringend benötigten Gespräche an.
Eine weitere interessante Beobachtung, die ebenfalls als Handlungsempfehlung verstanden werden kann, kommt von Matt Stone. Stone ist in Littleton aufgewachsen und gehörte – wie er selbst sagt – dort zu den »uncoolen Kids«. Die Columbine Highschool beschreibt er als »eine beschissene Schule inmitten beschissener Häuser«. Noch wichtiger: Er erinnert sich an seine Zeit als Teenager, als die Zeit, in der die Highschool »alles« für ihn gewesen war. Nach dem Prinzip: Wenn du diesen Mathe-Test nicht bestehst, bestehst du den nächsten auch nicht, und den übernächsten wieder nicht, und am Ende »stirbst du arm und einsam.« In
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