Morton Rhu - Leben und Werk
weniger Zeit für ihre Kinder und alleinerziehende Eltern – deren Zahl zunimmt – erst recht. Die Mutter und Hausfrau von früher, die sich auch um die Erziehung der Kinder gekümmert hat, gibt es kaum noch. Die Arbeitsbelastung der Eltern steigt ständig. Doch die Schulen sind mit Erziehungsaufgaben überfordert. Und viertens, aber dies ist nichts Neues, obwohl es vielleicht auch zugenommen hat: All das, was unter dem Stichwort Mobbing zusammengefasst werden kann. Die psychische und verbale Gewalt unter Kindern und Jugendlichen.
Nicola Bardola: Was kann jeder Einzelne gegen diese Entwicklung tun?
Morton Rhue: Gegen Punkt eins, die brutaleren Gewaltszenen in Filmen mit uns näher stehenden Protagonisten, lässt sich kaum etwas unternehmen, zumal hier das Recht der Meinungsfreiheit tangiert würde. Natürlich kann man mit den Kindern sprechen. Man kann versuchen, sie vor solchen Filmen zu schützen, vor allem wenn sie zu jung dafür sind. Aber sofort stellt sich wieder die Zeitfrage, zumal Eltern nach der Arbeit oft zu müde sind, um sich damit zu beschäftigen. Was die Verfügbarkeit von Waffen angeht, kann man hingegen an die Ursachen gehen, sprich die Hersteller, Vertreiber und Gesetzgeber zu einer Änderung ihrer Einstellung auffordern. Punkt drei ist ein hochkomplexes Problem, das vor allem soziologische, politische und wirtschaftliche Fragen betrifft. Kurzfristig eine Verbesserung herbeizuführen ist sehr schwierig. Aber ein Teil der knappen Zeit, die Erziehungspersonen ihren Kindern widmen, sollte sich mit Mobbing beschäftigen. Die Übergänge sind ja fließend: von Necken und Hänseln über Tyrannisieren bis hin zum brutalen Quälen. Hier kann man nicht früh genug anfangen, wobei nicht die Opfer, sondern die Täter aufgeklärt werden müssen. Man muss ihnen von klein auf beibringen, dass sie das nicht tun dürfen, auch wenn sie es gerne möchten.
Nicola Bardola: Wie ist das Verhältnis zwischen Fiktion und Realität in »Ich knall euch ab!«?
Morton Rhue: Im Vorwort schreibe ich: »Die Geschichte in diesem Buch ist ausgedacht. Nichts – und alles – daran ist wirklich passiert.« Das heißt, dass ich die Geschichte erfunden habe, dass sie aber auf vielen verschiedenen Ereignissen basiert. In Pennsylvania gab es einen Fall, bei dem ein Junge ziemlich genau das durchgeführt hat, was in meinem Buch Gary und Brendan tun. Die Tragödie in Colorado, die heute nur noch »Columbine« genannt wird, erwähne ich mehrfach. Hinzu kommt eine Vielzahl von Gewaltakten an Schulen, die ich beim Schreiben berücksichtigt habe.
Nicola Bardola: In manchen Passagen empfindet der Leser mehr Sympathie für die Täter als für die Opfer.
Morton Rhue: Vor der Veröffentlichung dieses Buches sprachen die Medien von den jugendlichen Tätern meistens schlichtweg als Verrückte, die mit normalen Jugendlichen nicht zu vergleichen sind. Irgendwie stimmt das ja auch, aber ich will zeigen, dass sogar ein sogenannter normaler Jugendlicher zu einer solchen Tat fähig ist, wenn die Umstände entsprechend problematisch sind. Ich wollte mit diesem Buch das Leben der Täter erforschen, um sie besser zu verstehen und so einen Beitrag zur Minderung der Gewalt unter Jugendlichen leisten. Und selbstverständlich rechtfertige ich mit keinem Satz die Täter. Ich will zeigen, dass die Täter Jugendliche sein können, die aus sehr schwierigen Verhältnissen kommen, gemobbt werden und so zum Äußersten fähig sind.
Nicola Bardola: »Die Welle« ist nicht nur als Buch sehr erfolgreich, sondern auch als Film. Soll »Ich knall euch ab!« verfilmt werden?
Morton Rhue: Das glaube ich kaum. Die Produzenten befürchten, dass ein solcher Film zur Nachahmung animieren könnte.
Nicola Bardola: Könnte das auch für das Buch gelten?
Morton Rhue: Natürlich habe ich mir darüber den Kopf zerbrochen. Das ist auch der Grund, warum am Ende die Täter sterben – einer fällt ins Koma. Zuvor haben sie die Kontrolle über ihre Geiseln verloren. Ihr Plan ist gescheitert. Die Geschichte endet für die Täter tragisch.
Nicola Bardola: Gegen Ende sagt Brendans und Garys Freundin Allison: Die Einzigen, die an diesem Abend wirklich versucht haben, einen anderen zu töten, waren diese Jungen. Die wollten Brendan wirklich mit bloßen Händen umbringen. Wie sehr hat Sie die Schuldfrage beschäftigt?
Morton Rhue: Ich mag diese Fragestellung nicht. Ich ziehe es vor, sich der Lösung der Probleme zu widmen und nicht Schuldzuweisungen auszusprechen. Wir müssen
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